Ein Büchlein, das seinen Leser sehr reich beschenkt

Alfred Grünewald – „Es gibt Zeiten, die Anachronismen sind“

von Frank Becker

Ich habe kein schlechtes, wohl aber
ein wählerisches Gedächtnis
 
Auch bei primitivster Unterkunft brauchst du
auf den Komfort der Seele nicht zu verzichten.
 
Die Auswahl aus dem umfangreichen Werk des Wiener Autors Alfred Grünewald (1884-1942) kann den Herausgebern Volker Bühn und Friedemann Spicker nicht leicht gefallen sein. Sie haben sich dafür durch Berge von Zeitungsartikeln, unveröffentlichte Manuskripte und Essay-Publikationen gearbeitet. Der Lohn – für sie und für Sie (und für mich) – ist ein soeben im Brockmeyer Verlag erschienenes funkelndes Bändchen. Der mit 137 Seiten schmale Band enthält eine ebenso schmale, wenn auch spannende Auswahl aus Grünewalds zwischen 1917 und 1941 in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichten Aphorismen, des weiteren eine kleine Auswahl aus seinen Essays und Feuilletons, sowie einige bisher ungedruckte Fabeln.
Heute weitgehend vergessen, ein Schicksal, das er mit vielen teilt, die ihrer jüdischen Herkunft wegen von den Nationalsozialisten verfolgt, schließlich ermordet und von der Nachkriegsgeneration beim Wiederaufbau der mutwillig zerstörten Kultur anschließend „übersehen“ wurden, ist Alfred Grünewald – das belegt diese Auswahl aus immerhin 20 Bänden seines Gesamtwerks - allemal eine Wiederentdeckung wert.
 
Macht und Ohnmacht des Briefes
 
Von dem Moment an, da der Briefschreiber die Feder ergreift, hat er bedingungslos das Wort. Es ist ihm anheimgestellt, diesen Vorteil nach Belieben auszunutzen; und so liegt es lediglich an seinem Willen, an seiner Laune, an seinem Wahn, ob eine Epistel von einer halben Seite oder eine solche von acht Seiten und noch mehr zustande kommt. Es gibt keinen Protest, keine Gegenargumente. Handgreifliche Rabulistik bleibt im Recht. Der Briefschreiber hat das Wort und von der ersten bis zur letzten Zeile seines Briefes immer das letzte.
Welch eine Macht!
Freilich beruht sie auf einer Täuschung. Denn der jeweilig vorgestellte Briefempfänger, dieser Geduldige, dieses Wesen ohne Nein und Aber, existiert ja gar nicht und ist nur ein Geschöpf der Phantasie des Schreibers. Und dieser vergißt: Dem Vorteil der unbegrenzten Rede-, will sagen Schreibefreiheít steht der gewaltige Nachteil gegenüber, nichts, aber auch nicht das Geringste, darüber zu wissen, wie weit der andere beim Eintreffen des Briefes für dessen Inhalt, ja, für dessen bloßen Empfang in Bereitschaft ist. Der Briefschreiber übersieht gern, daß es nun wieder dem Belieben dieses anderen anheimgestellt ist, den in Frage kommenden Brief - eine vielleicht fiebernde Epistel - stundenlang uneröffnet auf dem Schreibtisch liegen zu lassen oder in der Tasche zu tragen. Und gesetzt selbst, der Brief werde sogleich vorgenommen - auf welch mannigfache Art kann dies geschehen! Mit glühendem Interesse - also Fieber gegen Fieber- oder aber gelassen, kühl, vielleicht auch nur ganz flüchtig, sozusagen „mit halbem Auge“.
Kurz: Der Briefschreiber kann seinen Brief wohl schreiben, wie er will, hat aber keinen Einfluß darauf, wie dieser gelesen wird. Wie anders die vielfältige Strategie des Zwiegesprächs! Wer da zum andern spricht, hat selber Augen und Ohren offen. Und ein halbes Wort des Partners, ein Zucken seiner Mundwinkel, eine Gebärde kann bewirken, daß ein Geständnis, das schon auf der Zunge brannte, unterbleibt, daß eine waghalsig begonnene Rede mit einer rettenden Wendung die Flucht ergreift, daß Worte, die steigen wollen, jählings zu Boden fallen und zerbrechen. Man kann viele Briefseiten in den Wind schreiben; der Sprecher aber weiß sogleich, was gehört, was überhört wird. Ihm gegenüber sitzt ja kein Phantom, kein geträumter Ausbund an willigem Zurkenntnisnehmen, sondern der lebendige Adressat. Und mag auch nur einer von beiden sprechen, immer ist da Rede und Gegenrede, Planen, Verwerfen, Schlappe und Sieg, Zweifel und Gewißheit.
Und siehe, den Satz, den du niederschreibst, vermeinend, damit alles gewonnen zu haben, du würdest dich vielleicht hüten, ihn auszusprechen, einem Antlitz gegenüber, dessen Lippen sich kaum merklich kräuseln, sei es in Spott oder Qual.
 
Ein Büchlein, das ganz bescheiden daherkommt – seinen Leser aber sehr reich beschenkt. Im Anhang werden die genauen Textnachweise verzeichnet (Erstdrucke, Archive). Grafiken aus der Zeit Grünewalds und Fotos des Autors sind beigegeben.
Für Alfred Grünewald, seine Aphorismen, Fabeln und Essays (vor allem seine Essays!) sowie Verlag und Herausgeber unsere Auszeichnung: den Musenkuß!
 
Wenn Sie wüßten, was ich alles verloren habe! –
Sagen Sie mir lieber, was Sie sich bewahrten.
 
Alfred Grünewald – „Es gibt Zeiten, die Anachronismen sind“
© 2016 Brockmeyer Verlag, 135‚ Seiten, Paperback  -  ISBN 978-3-8196-1023-3
11,90 €
 
Weitere Informationen:  http://brockmeyer-verlag.de/