Exakt

von Fritz Müller-Partenkirchen

Exakt
Jeder prüfende Professor kann, wenn er darauf aus ist, jeden Prüfling, auch den besten, „werfen“. Er braucht sich nur auf etwas „Ausgefallenes“ zu verbeißen. So bekannt das ist - so unbekannt und unbenützt ist das Gegenverfahren: Jeder Prüfling kann, wenn er darauf aus ist, jeden Professor, auch den erleuchtetsten, werfen. Er braucht sich nur auf etwas Ausgefallenes zu verbeißen. Der Schlömilch hat's getan. Nicht aus Bosheit. Notwehr war es. Und Notwehr ist erlaubt. Denn er war zwar ein Mathematikgenie, aber von der Volkswirtschaft hatte er kaum eine Ahnung.
Man sah es dem Professor an, er war von Anfang an entschlossen: Ich schmeiß ihn durch! „Herr Kandidat, Sie scheinen von der Bevölkerungslehre nicht einmal das zu wissen, daß die zu ernährende Menschenmasse der Erde immer bedrohlicher anwächst?“ Schlömilch wußte es nicht. „Trotz Krieg und Krankheit, Schlömilchl“ trumpfte der Professor weiter auf. Schlömilch wußte nichts damit anzufangen. „Trotz aller Erfindungen der Industrie und Landwirtschaft!“ Schlömilch zuckte mit den Schultern. „So daß man den Zeitpunkt berechnet hat, wo die Nahrungskurve und die Menschenkurve sich schneiden müssen, mit mathematischer Gewißheit, Schlömilch!“
„Mathematisch?“ stutzte Schlömilch. Sein Stichwort war gefallen. Der Professor lächelte teuflisch: „Sie scheinen sich zum Luxus Ihrer Unwissenheit noch das Vergnügen des Zweifels an fundamentalen Grundlehren leisten zu wollen, stellen wohl gar in Abrede, daß heute ein Vielfaches der Menschenzahl zu ernähren ist als - als etwa vor tausend Jahren zur Zeit Karl des Großen?“
„Umgekehrt!“ klang's fest. „Was umgekehrt?“ kam es gereizt. „Früher gab es mehr - viel mehr.“ „Das ist denn doch -!“ brauste der Professor auf. Mit einem Blick auf die aufhorchenden Kollegen setzte er hämisch hinzu: „Den Beweis für diese Unverfrorenheit werden Sie uns freilich schuldig bleiben.“ „Durchaus nicht“, sagte Schlömilch ruhig und langte nach der Tafelkreide. „Sie sagten `mathematisch´, Herr Professor. Sie gestatten, daß ich dabei bleibe?“
„Wir haben Volkswirtschaft!“ „Was nicht hindert“, erhob sich der Mathematikprofessor, „daß der Kandidat exakt bleibt. Sie gestatten, Herr Kollege, daß ich assistiere? Voraussetzung, Schlömilch?“ „Jeder Mensch hat zwei Eltern.“ „Unbestreitbar, nicht wahr, Herr Kollege? Weiter, Schlömilch.“ „Jedes dieser beiden Eltern wieder zwei - macht vier.“ „Stimmt.“ „Und jedes vier wieder zwei - macht acht - oder mathematisch ausgedrückt: zwei hoch drei in der dritten Vorgeneration“, dozierte die Kreide. „Ganz richtig.“ „Mithin gab es beispielsweise von Ihnen, Herr Professor, vor vier Generationen zwei hoch vier Vorfahren, vor fünf Generationen zwei hoch fünf, vor dreißig Generationen zwei hoch dreißig - das macht, ich habe den Logarithmus von zwei im Kopf -“ Ein wohlgefälliges Nicken auf der Mathernatikseite, indes die Kreide ein paar karge Zahlen auf die Tafel stach … „Macht genau eine Milliarde dreiundsiebzig Millionen siebenhundertfünfzigtausend -“
Der Mathematiker nickte. „- und da eine Generation nicht viel mehr als dreißig Jahre lebt, so ergibt sich zur Zeit Karls des Großen für Herrn Professor allein eine gleichzeitig lebende Vorfahrenreihe von über einer Milliarde Menschen -“
Der Volkswirtschaftler blickte hilfesuchend auf den Mathematiker. Der zuckte die Achseln: „Rechnerisch exakt.“ „Aber das wäre - das wäre -“, japste der Volkswirtschaftler. „- ungefähr das Fünffache der heutigen Erdbevölkerung“, nickte Schlömilch ernst, „für Ihr Konto allein, Herr Professor.“ „Aber da muß doch ein Fehler - irgendein Fehler -“
„Bitte“, sagte Schlömilch, seine Kreide übergebend, „wenn Herr Professor selbst den Fehler finden wollten?“ Er fand ihn nicht. Und der Schlömilch? Hat ihn nicht zu finden brauchen. Ihm genügte, daß er durchkam. Auch in Volkswirtschaft.
 
 
Fritz Müller-Partenkirchen