Mein Amerika

von Christian Sabisch

Mein Amerika
 
von Christian Sabisch
 
Mit dem mächtigen Unwetter, das an diesem Mittwoch über Berlin niederging, war mir klar, daß die Maschine aus Paris Verspätung haben dürfte. Dennoch setzte ich alles daran, so pünktlich wie möglich, also Viertel nach fünf, in Tegel zu sein. Im Bus kurz vor dem Flughafen hatte ich endlich eine Internet-Verbindung mit meinem Handy und konnte nachschauen: „Delayed“ stand auf der Anzeige. Macht nichts, dachte ich mir, hörte aber im Kopf „Max nix“, das Mom immer wieder einwarf, aufgeklaubt wie ihr „Tschuuuss“. Mom, die Frau, die mich 1972 als Austauschschüler in Mogadore, Ohio für ein Jahr aufgenommen hatte, Helen Sudomir Johnson. (Erst heute kommt mir der Gedanke, daß ich nie wieder in meinem Leben auf eine Familie gestoßen bin, die an einer Straße lebte, die nach ihr benannt war.) Die Eltern von Mom, Einwanderer aus Osteuropa nach dem ersten Weltkrieg, hatten einen Morgen Land gekauft und bewirtschaftet. In dem alten, heimeligen Farmhaus wohnte Moms Schwester Dorothy, wir dagegen in einem komfortablen Bungalow weiter vorne auf dem Grundstück am Sudomir Drive. Zwei von Moms Kindern, Mike und Susan, sitzen nun in der Maschine aus Paris im Anflug auf Berlin zusammen mit Mikes Frau, Vicky. Sie hatte Mom auch auf deren Europareise 1974 begleitet, quer durch Europa: Frankfurt, Bielefeld, wo meine Eltern lebten, München, Venedig, Rom, Nizza, Paris, Amsterdam in zwei Wochen. So manche Nacht verbrachten wir im Zugabteil.
 
Etwa eine halbe Stunde Warten nach der angezeigten Landung, bis Koffer und Menschen in der Ankunftshalle in Scharen sichtbar werden durch die spärlichen Fenster. Dann öffnet sich die Tür, da ist Susan, viel kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich winke, sie stutzt, winkt zurück; bevor die Tür sich wieder schließt, sehe ich noch, wie sie Mike ein Zeichen gibt. Beim nächsten Türöffnen winkt auch er zurück. Dann endlich Umarmungen, Händeschütteln, strahlende Gesichter. Hinten im Taxi Susan, Vicky und ich, vorne Mike, der sich ständig umdrehen muß. Wie lange dauert die Fahrt, wie groß ist Berlin, seit wann bin ich in der Stadt, warum konnte Andreas nicht mitkommen, wie geht es den Kindern und Enkeln von Susan und Mike/Vicky? Wie war Dublin, London? Wie hat Euch Paris gefallen?
„Mike ist unerträglich“, raunzt mir Vicky zu, als Mike wieder einmal viel zu laut seine Meinung in die Runde wirft. „Aber es stimmt, er hat Recht, die Themse war wirklich so schmutzig, die Seine dagegen so sauber. Aber wie wir es mit ihm aushalten, weiß ich wirklich nicht.“ Später sagt sie einen Satz, den sie gerne wiederholt: „Das beste, was mir passiert ist, ich habe in Susan eine Schwester gewonnen.“ „Vicky ist die Mutter Theresa der Familie“, lautet Susans Kommentar. Mike und Vicky, eigentlich ein Traumpaar, wohlhabend, erfolgreich, unabhängig, gut aussehend. Sie lernten sich im Kindergarten kennen und sind seither unzertrennlich. Vor ein paar Jahren gaben sie ihr Haus mit über dreihundertfünfzig Quadratmetern Wohnfläche und Bootsanleger auf; Vicky vertrug keine Bootsfahrten mehr, nachdem mehrfach ihr Hautkrebs operiert worden war. Jetzt leben sie mitten in der Stadt Knoxville in Tennessee, haben alles, was sie brauchen fußläufig in der Nähe und genießen ihr Leben, manchmal einen Joint und regelmäßig Filme im Kino. „Die Innenstädte werden wieder attraktiv, und viele Leute ziehen zurück. Nicht überall, aber sogar in Städten wie Cleveland“, erzählt Mike.
Im Hotel am Potsdamer Platz bleibe ich dabei, bis sie problemlos eingecheckt sind. Mike legt eine Kreditkarte mit dem Logo der Hotelkette vor: „Ja, die ist gut!“, sagt er zur Rezeptionistin und zu mir: „Früher war ich einhundert Nächte im Jahr im Marriott, einhundert Nächte im Hilton. Damals wurde mir immer der extra rote Teppich ausgebreitet mit allem, was dazu gehört. Aber jetzt bin ich seit vier Jahren pensioniert und werde in ein paar Monaten 65.“
„Was ziehen wir heute Abend an?“ „Was, wie Ihr wollt. Ich ziehe ein Jackett an“, sage ich und verschwinde.
Zurück am Potsdamer Platz kommt Mike als erster in die Lobby: „Die Damen brauchen mal wieder länger. Schönes Hotel, tolle Aussicht von oben auf die Stadt. Ja, wir hatten schon mal einen kurzen Drink da oben, kostenlos, nein, das ist einfach im Preis inbegriffen, wir zahlen auf jeden Fall dafür. Umsonst ist nichts. Aperol-Spritz und einen fetten Grappa für mich.“ „Können wir laufen?“, fragt Vicky, als wir aufbrechen. „Keine gute Idee. In Berlin macht man gerne mal den Fehler, Entfernungen falsch einzuschätzen. Die Breite der Straßen, und alles zieht sich.“
In der Paris-Bar lassen wir den Tisch, den uns der Kellner im vorderen Teil andient, links liegen und gehen nach hinten an einen eingedeckten Tisch. Ein Toast auf uns alle, auf unser Wiedersehen, und auf alle, die nicht dabei sein können: Bruder Joey, mein Mann Andreas, und natürlich auf Helen. „Sie ist bei uns, ist sie doch immer da, paßt auf uns auf“, sagt Mike. „Er ist Helen, glaube mir, schau ihn doch einfach mal an, wie er redet, gestikuliert, sich bewegt“, sagt Susan, von der ich eigentlich immer dachte, sie käme ihrer Mutter am nächsten. „Weißt Du“, setzt Mike an, „ich hatte etwas Geld und nach dem Tod von Tante Dorothy habe ich die ganze Farm zurück gekauft, alles herrichten lassen.“ „Als Investition“, wirft Vicky ein.
Mike war bei einem amerikanischen Energiekonzern in führender Stellung; sein letztes Großvorhaben kam nicht zustande, eine Atomanlage im englischen Manchester. Das hätte vier Jahre in Europa bedeutet, vier Jahre, in denen er Sprachen lernen und die Länder bereisen wollte.
„Die Wand zwischen Wohn- und Familienzimmer in unserem Haus habe ich entfernt, da sind jetzt nur zwei Stufen. Die alte Veranda habe ich zu einem Zimmer ausgebaut, das man in ein Badezimmer umwandeln kann; ohne zwei Badezimmer im Erdgeschoss kann man das Haus nicht weiter verkaufen. Und die enge Küche habe ich zum Wohnbereich geöffnet. In unserem alten Haus wohnt jetzt Joey.“ „Und zahlt keine Miete“, kommt fast wie aus einem Mund von Vicky und Susan. „Ja, das stimmt, er zahlt nicht immer, aber das ist doch egal. Er ist mein Bruder, und ich mag ihn.“ „Was macht Joey jetzt? Er war so leidenschaftlich in seinem Job als Drucker, liebte es, mit Klischees zu arbeiten, hat mir mal einen ganzen Nachmittag erläutert, wie die Siebe übereinander gelegt das endgültige Bild ergeben.“ „Er fährt jetzt Uber-Taxi! Stell Dir vor, Uber!“
„Steht die alte Holzscheune noch? Gibt es am Teich noch die alte japanische Holzbrücke?“ Kollektives Kopfschütteln. Die Frage nach dem Ahornbaum, den ich im Frühjahr 1973 im Wald aushob und auf der öden Wiese hinter dem Haus pflanzte, stelle ich nicht. Ich weiß, mein Baum steht noch. Im Internet kursiert eine Satellitenaufnahme.
 
„Sue, wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?“ „Das war in dem Jahr, als ich die Operation hatte, das muß also 1996 gewesen sein, ich war im Krankenhaus, Du alleine in meinem Haus.“ Ja, ich erinnere mich. Und Mike? „1973, denke ich.“ „Nein, ich habe Dich noch in Pittsburg besucht, das muß so 1976 gewesen sein.“ Sich wieder auf den Stand bringen, erzählen, das Wir-Gefühl und die Vertrautheit genießen. Im Verlauf des Abends fällt mir auf, daß mein Ohio-Akzent wieder kommt. Zugegeben, Texaner, Kalifornier, New Yorker haben ausgeprägtere Akzente. In Ohio klingen die Vokale eher abgeflacht.
Vicky fragt, was ich so treibe, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist. In Stichworten erzähle ich von Krankheit, Unfall und wie sich alles weiter entwickelt hat, unterlegt von Susans Ergänzungen mit der Präzision von Kontoauszügen. Sie hat alles aus der Ferne verfolgt; wenn auch die Briefe, e-Mails in den letzten Jahren immer spärlicher wurden, eigentlich nur noch zu Geburtstagen kamen, von ihr „To My Brother“, von mir „To My Sister“, so waren es doch nicht einfach nur Glückwunschkarten. „Weißt Du, meine besten Nachbarn“, „Die, mit denen Du häufiger ein Glas Rotwein trinkst?“, „Nein, die, die ich meine, wohnen erst seit ein paar Jahren neben an, das sind zwei Lesben, über die ich mich immer kaputt lachen muß. Sie trinken Starkbier und sind dann so hacke dicht, daß sie sich ständig auf so lustige Art kabbeln, das Schlüsselloch in der Haustür nicht finden, übereinander stolpern, ich muß einfach immer mitlachen. Wir haben so viel Spaß.“
Nach dem Essen gehen wir ein Stück in Richtung Potsdamer Platz. Auf der Kantstraße sehen wir eine Absperrung, ein Baum wurde von einem Blitz getroffen, die Hälfte liegt auf dem Bürgersteig. In der Budapester Straße leuchtet die Bar Marlene im Interkontinental in bräunlich warmem Licht. Klaviermusik dringt nach draußen und kurze Zeit später ordern wir: Aperol-Spritz für Vicky und Susan, einen Old-fashioned für Mike, einen Americano für mich und später einen Americano für Mike und noch einen für mich. Americanos haben es ihm offensichtlich auch angetan. Der Abend geht noch lange nicht zu Ende. Wir hängen aneinander, nehmen kaum Notiz von dem, was um uns herum geschieht, nur nach jedem Stück applaudiert Mike dem Pianisten. Und wieder kommt die Sprache auf Joey. „Er hat so viele Fehler in seinem Leben gemacht, Chris, Du glaubst es nicht. Mike wollte ihm eine College-Ausbildung an der Akron-University bezahlen, aber er wollte unbedingt nach Columbus, wo Mike auch studiert hat. Aber das war Mike zu teuer. Und glaube mir, mit seinen Frauen, auch immer wieder falsche Entscheidungen. Er lernt es einfach nicht.“
„Ach hört auf, der Junge ist in Ordnung“, sagt Mike, greift Susans Telefon—seines hat er im Hotel vergessen—und geht auf die Straße. Als wir endlich aufbrechen und ihm folgen, sagt Susan zu Vicky: „Bestimmt hat er Joey angerufen.“ „Klar“, erwidert Mike. Wollen wir noch weiter laufen? „Nein“, sagt Vicky, „ich möchte jetzt ins Hotel“, und wir besteigen ein Taxi, in dem uns plötzlich aus heiterem Himmel kollektiv ein donnernder Lachvirus infiziert, den wir nicht loswerden, bis ich vor meinem Hotel ausgestiegen bin.
 
Am nächsten Tag schickt Joey eine e-Mail aus Mogadore, Ohio an Susan in Berlin. „Berichte dies Christian verbatim“, so seine Bitte. Er werde sich immer daran erinnern, wie er von einem Abend mit seinem Freund Paul und ich mit meiner damaligen Freundin Marie-Jane spät nach Hause kamen, uns im Familienzimmer zwischen Garage und Wohnzimmer einfanden und uns eine Lachattacke überkam, die sogar Mom in ihrem Schlafzimmer aufweckte. Sie konnte nicht verstehen, was los war, kam schauen, kratzte sich am Hintern in ihrem Baumwollpyjama, sagte nur „Oh, well“, was bei uns eine noch größere Lachsalve auslöste. Und dann folgt ein Satz, der sitzt: „Wir waren high vom Leben.“
 
Am nächsten Morgen gehen wir am Holocaust-Memorial vorbei Richtung Brandenburger Tor. Die Kopfsteinpflaster in der Fahrbahndecke, die dort verlegt sind, wo genau die Mauer stand, zeige ich Vicky, die sich kein Bild von der Mauer machen kann. Blick auf den Tiergarten, die Siegessäule. Dann stehen wir vor der amerikanischen Botschaft. „Ich kann es nicht glauben, in jedem anderen Land wird unsere Botschaft bewacht von diesen martialisch aussehenden, fiesen Marines mit ihren kahlgeschorenen Köpfen, Schweinenacken, grimmigem Gesichtsausdruck und Gewehr quasi im Anschlag. Und hier laufen deutsche Polizisten in schusssicheren Westen rum, die so harmlos aussehen! Man will ihnen einfach nur einen guten Tag wünschen. – Aber das wird sich alles ändern, wenn erst mal Mr. Trump an der Macht ist. Dann werdet Ihr endlich ordentlich für unser Militär hier bezahlen“, Hohn und Spott liegen in Mikes Stimme. „Ich begreife nicht, was in unserem Land passiert. Da kann ein Kandidat alle anderen herabwürdigen, kleinreden, ohne Respekt. Und will sich von den Mexikanern eine Mauer bauen lassen, wie die Kommunisten einst in Deutschland.“
 
Auf dem Weg zum Check Point Charly frage ich Susan nach Hagen, den Austauschschüler, den sie bei sich aufgenommen hat. Seine Hochzeit am Wochenende ist schließlich der Auslöser für die Reise, die ursprünglich nur Vicky und Susan unternehmen wollten, in die sich Mike aber eingedrängt und fortan das Programm bestimmt hat. „Wir hatten von einem Austauschschüler aus Deutschland in Vanessas Schule gehört, der im gleichen Alter wie Vanessa bei einer mexikanischen Familie untergekommen war. Stell Dir vor, die hatten ihn in ein Zimmer voller Zigarrenqualm gesteckt, und er haßt Zigaretten- und Zigarrenqualm. Das ging also überhaupt nicht gut, und irgendwann haben sie ihn vor die Tür gesetzt, einfach so, weil er nicht für die Familie arbeiten wollte, um das Einkommen aufzubessern. Vanessa kam nach Hause und erzählte mir davon. Weißt Du, ich hatte eigentlich nicht das Geld, aber dann bettelte Vanessa: ‚Aber Du hast mir doch versprochen, ich dürfte auch so einen Bruder haben wie Du, als ihr einen Austauschschüler aufgenommen habt. Bitte, bitte, und wenn auch nur vorübergehend für ein paar Tage, bis er was anderes gefunden hat. Ich mache auch mein Zimmer frei.‘ So kam Hagen zu uns und ist bis zum Schluß geblieben. Wenn wir Extra-Touren vorhatten, ist manchmal seine Mutter aus Deutschland eingesprungen.“ „Seine Reise nach New York habe ich bezahlt“, knallt Mikes Stimme von hinten durch „und so vieles andere mehr!“ „Blödsinn“, murmelt Susan, „stimmt nicht.“
Am Check Point Charly kann sich Vicky auch angesichts der Bilder immer noch nicht vorstellen, wie die Abriegelung einer ganzen Stadt innerhalb kürzester Zeit funktioniert haben soll. „Stacheldraht, Schlagbäume, Panzer. Familien wurden von jetzt auf gleich auf Jahrzehnte getrennt. Du warst auf der falschen Straßenseite—Dein Pech“, erklärt ihr Mike und zeigt ihr auf einer Grafik, wie nach dem zweiten Weltkrieg ganz Polen nach Westen verschoben wurde. Den Finger auf der Europa-Karte: „Hier müssten die Sudomirs hergekommen sein. Als sie geboren wurden, gehörte das noch zu Österreich-Ungarn.“
„In den letzten Jahren, als Mom schon krank war, war sie richtig bösartig“, erzählt Susan irgendwann beim Spazierengehen. Mike und Vicky pflichten ihr bei. „Als ich sie das letzte Mal sah, war sie zu mir unverändert“, bemerke ich. „Ja“, sagt Susan, „Du warst ja auch der dritte Sohn, den sie immer haben wollte. Ich war nur ein Mädchen. Irgendwann, kurz vor ihrem Tod, waren wir mal einkaufen und obwohl ich eigentlich nicht das Geld dafür hatte, drängte sie mir ein braun-schwarzes Kostüm auf. Als ich ein paar Tage später damit bei ihr auftauchte, schnauzte sie mich an, was das denn für ein Fummel wäre, ich sähe aus wie eine Hure. Aber Mike oder Vicky behandelte sie wie immer.“ „Hast Du das irgendwie verarbeiten können oder bist Du ihr immer noch gram deswegen?“ Die Frage verhallt.
 
Das Taxi bremst abrupt und der Fahrer hupt lange und laut. „In meinem Land würden die Leute jetzt so reagieren“, sagt Mike und legt zwei Finger wie zum Schuss auf seinen rechten Arm an. „Bumm! So machen die Leute das bei uns. Bumm!“
„Was ist eigentlich aus der doppelläufigen Flinte geworden, die in Moms Schlafzimmer in der Ecke stand?“ „Haben wir die nicht verkauft?“, fragt Vicky in den Wagen. „Nein, nein“, antwortet Mike ungewöhnlich leise. „Wir haben sie zerstört. Gott sei Dank.“
Auf dem Rückweg von einer Bootsfahrt auf der Spree kommen wir noch einmal am Reichstag vorbei und sehen die Schlange der Besucher, die in die Kuppel aufsteigen wollen. Vicky und Susan sind vorgelaufen, Mike hält plötzlich inne: „Weißt Du, ich bin so froh, daß ich im letzten Viertel meines Lebens stehe. Vielleicht wäre ich gerne noch ein paar Jahre, sagen wir fünf oder so, früher geboren. Dann wäre ich auf jeden Fall nach Woodstock gefahren, aber so hatte ich nur zwölf Dollar in der Tasche, und unser Vater, der uns bestimmt geholfen hätte, war ja schon tot. Aber, wenn ich sehe, welche Veränderungen auf uns zu kommen, dann will ich das nicht mehr erleben. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Das ist keine Welt, in der ich leben möchte.“
Später am Nachmittag und für mich völlig unverhofft, sind wir plötzlich mit Hagen und Albertina verabredet, in einem ganz anderen Teil von Berlin, Görlitzer Straße. Zwei ausgesprochen schöne Menschen. Hagen wollte eigentlich schon gestern Abend das Triumvirat zum Abendessen treffen, aber Susan und Mike bestanden wohl darauf—das wird zwischen den Zeilen deutlich—den ersten Abend in Berlin mit mir alleine zu verbringen. Nach einer Stunde muß ich ein Taxi rufen, um meinen Zug nach Frankfurt zu erreichen. Die Zeit drängt, und das ist gut so. Mike verfrachtet meinen Koffer im Auto, während ich einen nach dem anderen zum Abschied umarme, auch das Brautpaar. „Jetzt wißt Ihr, in was für einer Familie Ihr gelandet seid“, sage ich den beiden noch.
 
„You must come and visit“, bittet Susan, und Mike verspricht: „Wir werden uns richtig gut um Euch kümmern.“ Im Taxi wiegt der Druck schwer auf meiner Brust, den ich von früheren Abschieden her kenne. Ich atme tief durch und erinnere mich an den Satz, den ich abends zuvor Susan sagte, als wir in unserem Lachwahn vor meinem Hotel anhielten: „Es ist so, wie immer.“
„Ja, wie immer.“
 
 
Frankfurt am Main, d. 1. August 2016