Zur Geschichte des Zeitungs-Comic

Alexander Braun - „Pioniere des Comic“ (Eine andere Avantgarde)

von Joachim Klinger und Frank Becker

Zur Geschichte des Zeitungs-Comic

Eine Ausstellung in Frankfurt/M.
 
Das Medium Comic-Strip - etwa zur gleichen Zeit wie der Film entstanden – genoß Ende des 19. Jahrhunderts in den USA auf Anhieb allergrößte Popularität. „Comics“ bezeichnen Bildergeschichten. Da sie als Bildfolgen in einem Streifen (Strip) in Tageszeitungen, Beilagen von Sonntagsblättern oder Werbeschriften er­schienen, gewöhnte man sich daran, von „Comicstrips“ zu sprechen. Die zu­nehmende Beliebtheit von Comic-Strips führte dazu, daß sie später zusammenge­stellt und in Heftform, als Album, Taschenbuch und traditionelles Buch veröffentlich wurden. Die Auflagen liegen heutzutage zum Teil sehr hoch. Comics haben große Liebhaber-Gemeinden und sind ein bedeutender Wirt­schaftsfaktor im Bereich der Printmedien.
 
In Form von sehr bald auch farbigen Beilagen zu den amerikanischen Sonntagszeitungen zielten Comics zu Beginn insbesondere auf das Millionenheer der Einwanderer, die noch unsicher in Sprache, Sitten und politischen Verhältnissen der Neuen Welt waren. Nicht wenige der erfolgreichen Zeichner waren Einwanderer aus Deutschland oder kamen aus deutschen Familien (u.a. Feininger, Dirks, Knerr). „Comics gehören, jedenfalls nach Ansicht eifriger Comic-Leser, zu den interessantesten Errungenschaften unseres Jahrhunderts", schrieb Axel Brück 1971 in seinem Vorwort zum ersten Band von „Weltbekannte Zeichenserien“. Bis heute werden in den USA, in England und in Frankreich die Comic-Seiten der Sonntagszeitung zuerst aufgeschlagen, eine Kultur, die sich in Deutschland leider noch immer nicht hat etablieren können.
Denn die Zeitungs-Strips besonders der frühen Jahre waren beileibe nicht nur heitere Unterhaltung, sondern zum einen häufig graphisch-künstlerisch höchst anspruchsvolle und darüber hinaus psychologische Tiefen auslotende Meisterwerke. Bemerkenswert ist das hohe intellektuelle sowie künstlerische Niveau dieser frühen Comics. Der spätere Bauhaus-Maler Lyonel Feininger etwa konzipierte 1906 zwei Serien für die Zeitung „Chicago Tribune“. Winsor McCay nahm ab 1904 in seinen Freuds Traumdeutung ähnlichen Serien (er konnte Freud damals noch nicht gelesen haben!) den Surrealismus vorweg und George Herriman erprobte mit seiner Serie „Krazy Kat“ lange vor den Comic-Katzen-Stars „Felix the Cat“ von Pat Sullivan, dem legendären Tom aus „Tom und Jerry“ von Fred Quimby/William Hanna/Joseph Barbera und „Garfield“ aus der Feder von Jim Davis über 30 Jahre lang ein fantastisch skurriles Theater „irgendwo zwischen Dada-Subversion und Beckettscher Bühnen-Absurdität“.


Lyonel Feiniger, Kin-der-Kids 1906
 
Sechs der „Pioniere des Comic“ stellt noch bis zum 18. September die Schirn Kunsthalle in Frankfurt/M. in einer gleichnamigen, von Alexander Braun kuratierten Ausstellung, Untertitel „Eine andere Avantgarde“ vor. Original-Seiten, Entwürfe und Skizzen von Winsor McCay (Little Nemo), Lyonel Feininger (Kin-der-Kids / Wee Willie Winkie), Charles Forbell (Naughty Pete), Cliff Sterrett (Polly and Her Pals), George Herriman (Krazy Kat) und Frank King (Gasoline Alley) ermöglichen einen Spaziergang durch die frühe Welt des Comic Strip. Alexander Braun ist auch, mit Unterstützung von Schirn-Direktor Max Hollein, Herausgeber des wahrlich opulenten Katalogs zur Ausstellung, im dem er die genannten sechs Zeichner in ausführlichen Kapiteln und mit reichem Bildmaterial auf überwiegend farbigen Seiten aus den Samstags-Ausgaben einiger der damals namhaften Zeitungen vorstellt: The New York Herald, Los Angeles Sunday Times, The Chicago Sunday Tribune, Boston Sunday Advertiser u.a.. In Alexander Braun hat sich ein Kenner der Materie um das Thema gekümmert - wir erinnern an seine Ausstellung und das gleichnamige Buch
„Jahrhundert der Comics – Die Zeitungs-Strip-Jahre“ (ISBN 978-3-9812373-0-6).
 
Die Frage, ob es sich hier um eine eigene Kunstsparte handele, ist unbedingt zu beja­hen. Wenn man die Neigung hat, die Bildende Kunst möglichst nach formalen Kriterien zu gliedern, gehören Comics zum Sektor der Grafik. Hier muß sich beispielsweise die Karikatur als spöttische Übertreibung behaupten. Und auch der Cartoon, die Witz-Zeichnung, hat es schwer. Zwar weiß man eigentlich nichts mehr mit dem Begriff der Seriosität anzufangen, trägt aber doch das vage Gefühl mit sich herum, „wahre, wirkliche, echte Kunst müsse `seriös´“ sein. Angesichts eines ausufernden Kunstbegriffs und des nahezu völligen Ver­zichts auf Kriterien für die Anerkennung künstlerischer Leistung in den vi­sual arts muß das befremdlich erscheinen.
Comics dürfen die Aufnahme in die Grafische Kunst nur beanspruchen, wenn sie die Voraussetzung der für ihr Genre zu fordernden Qualität erfüllen. Diese Qualität wird konstituiert aus der Zugkraft der Idee und ihrer Um­setzung. Bei Comic Strips mit Sprechblasen, Begleitversen u.ä. bedeutet das: Die „zündende“ Idee muß sich in einem adäquaten Text niederschlagen, die grafische Gestaltung muß die Beherrschung der künstlerischen Mittel er­kennen lassen, und sie muß in der zeichnerischen Umsetzung von Idee und Text überzeugen. Wortlose Comics müssen ihre Aussage rein zeichnerisch leisten; das stellt hohe Ansprüche an die Künstler, die sich nicht selten aus akademisch ausgebildeten Kreisen rekrutieren. Alexander Braun weist die Nähe zu Bauhaus und Expressionismus eindrucksvoll nach.


Cliff Sterrett, Polly and Her Pals, 1927
 
In den Comics verbinden sich Elemente der Karikatur und der Cartoons. Im Verein mit Ideenreichtum und erzählerischer Kunst entstehen Schöpfungen eigener Art, deren Popularität den Argwohn manches Kunstwissenschaftlers erregt. Denn ist nicht für Kunst typisch, daß sie nur von wenigen verstan­den und geschätzt wird? Gegenfrage: Wem präsentierte sich das Kunst­werk in den von uns überschaubaren Zeiträumen? Ist es nicht so, daß erst nach der Erfindung des Buchdrucks (um 1440) auch der Bilddruck „unter das Volk“ kam? Im Zeitalter der Reformation wurde die Druckgrafik be­nutzt, um dem Volk für Mißstände im kirchlichen Bereich und soziale Unge­rechtigkeit die Augen zu öffnen. Mit der Erfindung der Lithografie wurde die Grafik im 19. Jahrhundert zum klassischen Informationsmittel in der Öffentlichkeit, deren Blick geschult und deren kritischer Geist geschärft werden sollte.
Jeder Künstler weiß, daß Kunst nicht nur der Belehrung und Erziehung die­nen darf. Politische und pädagogische Anliegen können sie geradezu degene­rieren lassen. Künstlerisches Schaffen lebt vom Widerspruch zu Lebens­verhältnissen, aber es erschöpft sich nicht darin. Wo es zum Widerstand aufruft und zornige Empfindungen auslöst, da sucht es auch das „erlösende Lachen“ und die Befreiung zur Freude. Deshalb prangert die Karikatur nicht nur an, sie verschafft auch dem Betrachter mit ihrer Entlarvung minde­stens für einen winzigen Augenblick das Gefühl der Überlegenheit. Er durchschaut mit einem spöttischen Lachen eine konkrete Person oder Si­tuation.


George Herriman, Krazy Kat, 1927-07-18
 
Die Fülle der Comic-Figuren in der Kategorie der Lausbuben läßt sich durch weitere Beispiele veranschaulichen: „Yellow Kid“, ab 1895 von Richard Outcault in den USA, „Buster Brown“, ab 1902 von demselben, „die Katzenjammer Kids“ von Rudolph Dirks in den USA 1897 in der Nach­folge von „Max und Moritz“ des deutschen Meisters Wilhelm Busch (1865).
Vor diesem Hintergrund muß man die Entwicklung wortloser Bilderge­schichten sehen. Regelmäßige Comics mit leicht wiedererkennbaren Typen la­gen von Anfang an im Trend. Kurt Kusenberg berichtet, im Jahre 1920 habe der Chefre­dakteur einer schwedischen Sonntagszeitung den Zeichner Jacobsson (1889-1945) gebeten: „Machen Sie eine Serie Zeichnungen von einem Mann!“ Der Zeichner begriff sofort, was von ihm verlangt wurde. Er erfand Adamson, den die meisten Leser kennen werden und dessen meisterliche Beschreibung wir gleichfalls Kurt Kusenberg verdanken:
„Der Mann war klein und trug zum Ausgleich einen großen hohen Hut, wie Menzel. Er hatte ein Schimpansengesicht: Radieschenna­se über breitem Mund und auf der Glatze genau drei Haare, wie Bismarck (in der Karikatur). Er rauchte unablässig Zigarren, wie Churchill, und hieß Adamson, Sohn Adams, zum Zeichen dafür, daß er ein ganz beliebiger Mann sei, ein Jedermann.“
 
„Pioniere des Comic“ (Eine andere Avantgarde)
Bis 18. September 2016 in der
Schirn Kunsthalle – Römer­berg- D-60311 Frank­furt am Main
Öffnungszeiten:
Diens­tag, Frei­tag – Sonn­tag 10 – 19 Uhr / Mitt­woch, Donners­tag 10 – 22 Uhr
Öffnungszeiten Minischirn in den Sommerferien:
Diens­tag – Frei­tag 10 – 14 Uhr / Sams­tag + Sonn­tag 10 – 18 Uhr
 
Weitere Informationen: www.schirn.de/
 
Der Katalog zur Ausstellung:
„Pioniere des Comic“ (Eine andere Avantgarde) – Hrsg. Alexander Braun, Max Hollein, Vorwort von Max Hollein, Texte von Alexander Braun, David Currier, Thomas Scheibitz, Gestaltung von Alexander Braun
© 2016 Hatje Cantz, 271 Seiten, gebunden, 359 Abbildungen, 25x 32 cm, ISBN 978-3-7757-4110-1
35,- €
 
Weitere Informationen:  www.hatjecantz.de