Das Kino als Ort der Wunscherfüllung

„Bach in Brazil“ von Ansgar Ahlers

von Renate Wagner

Bach In Brazil
(Deutschland/Brasilien – 2015)
 
Drehbuch und Regie: Ansgar Ahlers
Mit: Edgar Selge, Franziska Walser, Peter Lohmeyer, Aldri Anunciação, Pablo Vinicius, Thaís Garayp u.a.
 
Um von Anfang an in seiner Begeisterung nicht mißverstanden zu werden: „Bach in Brazil“ zeichnet sich keinesfalls durch besondere Lebensnähe aus. Aber Kino ist auch der Ort der Wunscherfüllung, und wenn es einem Film gelingt, diese auf hohem Niveau und mit möglichst wenig der nötigen Ingredienzien (sprich: Klischee und Kitsch) zu vermitteln, stellt sich unweigerlich Glücksgefühl ein. Was bei „Bach in Brazil“ auch mit den Darstellern zu tun hat und mit dem sorglich und klug ausgepinselten Ambiente.
Irgendwo las man, die Geschichte sei von „wahren Begebenheiten“ inspiriert. Schön wär’s. Also, worum geht es in dem Film, den sich Ansgar Ahlers als Drehbuchautor und Regisseur so ungemein liebevoll ausgedacht hat? Zuerst ist man in Bückeburg, Niedersachsen, rund 20.000 Einwohner, aber mit glanzvoller Vergangenheit aus der Zeit, als man Residenzstadt der Grafschaft Schaumburg-Lippe war, und tatsächlich, Johann Christoph Friedrich Bach, einer der vielen begabten Bach-Söhne, hat hier als Hofcompositeur gelebt. Das Bach-Festival, das der Film um das prächtige Schloß konstruiert (da fahren dann auch barocke Kutschen vor), gibt es vielleicht nicht, aber ist dramaturgisch nötig.
 
Man lernt den nicht mehr jungen Marten Brückling kennen, ehemaliger Musiklehrer, der seine riesige Tuba bläst (nein, pardon, es ist ein Euphonium), Orgel spielt er natürlich auch, aber beim Bach-Fest ist er unerwünscht (Peter Lohmeyer spielt seine Macht als Festival-Organisator so vordergründig wie schlecht gelaunt aus), da will man „junge Leute“. Aber für Brückling (sagen wir gleich, daß Edgar Selge wieder einmal – wie so oft! – unvergleichlich ist) stellt sich ohnedies ein anderes Problem: Sein unvergessener Jugendfreund Karl, der ihn „verlassen“ hat und nach Brasilien ausgewandert ist, hat ihm ein Notenblatt von Bach vermacht. (Nicht gänzlich unwahrscheinlich, dergleichen können ebenso geflüchtete Juden wie geflüchtete Nazis im Gepäck gehabt haben.) Das muß persönlich abgeholt werden.
Begeistert ist er nicht (vom Bach-Blatt schon, von der Reise nicht), aber die ihn still anbetende Kollegin Marianne (Selge-Gattin Franziska Walser mit wunderbar liebenswerter Ausstrahlung) organisiert ihm die Reise. Drei Tage, nach Ouro Preto (die prachtvolle kleine Barockstadt im Süden des Landes, wo es in einer Kirche auch eine grandiose deutsche Barockorgel gibt!) und zurück, und mit einem Blatt in Bachs Handschrift (oder der eines Sohnes, so streng nimmt man das nicht) muß er der Star des Festivals werden!
Wenn ein freundlicher, aber etwas vertrockneter Deutscher in das vor Sonne, Vitalität und skurrilen Menschen sprühende Brasilien kommt, muß sich ja nun Unerwartetes begeben, und es erfolgt prompt: Fernando (der Film macht ihn übrigens zum Erzähler der Geschichte!), der arme Straßenjunge (eine Spur zu sentimental geführt: Pablo Vinicius), findet in dem seltsamen Deutschen, der sich auf der Straße hinsetzt, um entzückt die Bach-Noten auf seinem Horn zu blasen, das unschuldige Opfer: eine auf der Kopf, der Mann ist all seine Besitztümer los und muß froh sein, daß Candido (Aldri Anunciação als strahlendes Schlitzohr), ein Freund seines verstorbenen Karl, sich seiner annimmt. Und auch verspricht, er werde schon Koffer, Paß, Instrument und vor allem das Bach-Blatt wiederfinden…
 
Wie Selge das spielt, daß Marten Brückling sich ohne deutsches Geschimpfe, Geröhre und Gepoltere in sein Schicksal findet, weil er einfach ein ruhiger, feiner Mensch ist, nimmt den Kinobesucher widerstandslos in alles mit, was nun geschieht. Candido sucht die Schuldigen nämlich in der Jugendstrafanstalt des Ortes (wo die Jungs offenbar nach Belieben ein und aus gehen), und wird nach und nach fündig.
Erst allerdings, nachdem Brückling einer ausgewählten kleinen Schar (darunter Fernando und sein Bruder) Musikunterricht gibt und – na ja – die kleinen Strizzis, die im Grunde liebe, arme Kinder sind (ja, im Kino, man weiß schon, daß es im Leben anders ist und dort ein Zynismus herrscht, der hier weitgehend ausgespart wird), mit Bach vertraut macht. Bach, der üblicherweise nicht so „kulinarisch“ ist, wie der Film – im Crossover mit südamerikanischen Rhythmen – glauben macht (es gibt sogar den „Soundtrack“ des Films zu kaufen: Bach, sehr light, aber warum nicht).
Der Weg, den der Film zurücklegt (mit ein paar drolligen Knallchargen im Gefängnis, die brummige Wärterin, herrlich geschmiert von Thaís Garayp, der Direktor, der sich durchsetzt, die Ministerin, die da Politik macht), ist heiter, und natürlich führt er letztendlich mit den jungen Leuten nach Bückeburg. Da findet auch die Vereinigung von Marten mit der Kollegin (wozu er früher nie den Mut gehabt hat, aber er ist natürlich im Umgang mit den Brasilianern lockerer geworden), da triumphiert die kleine „Band“ im Park vor dem Schloß und versammelt alle Zuschauer um sich, und schließlich erlebt man in Kurzfassung die Umwandlung der Schüler in eine gefragte, durch Brasilien tourende Musikgruppe… ja, zu schön, um wahr zu sein.
 
 
Renate Wagner