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„Auch 100 Jahre sind zu kurz - Die Erinnerungen“ von Johannes Heesters

von Wolfgang Nitschke

Wolfgang Nitschke - © Manfred Linke / laif
Die lustige Witwe von Dachau

„Auch 100 Jahre sind zu kurz - Die Erinnerungen“
von Johannes Heesters
 
*** Extended Version für Freunde der Operette ***


Liebe Leser!
Erinnerungen sind was Feines, was Kuscheliges, was Ver­bindendes. Deshalb, Kameraden, stillgestanden, heute folgen­der, immer wieder gern gehörter, typisch deutscher Witz aus deutschen Landen:
‚Und dein alter Herr, was hat der im Krieg so gemacht?’
‚Oh, mein Vater, der ist im KZ umgekommen.’
‚Oha!’
‚Ja, ja, der is besoffen vom Wachtturm gefallen.’

Nun ja, es sind manche Erinnerungen halt sehr subjektiv,sehr persönlich, sie zeigen aber auch eindringlich, daß hier noch längst nicht einfach alles vergessen wird.
„Erinnerung heißt die Kraft meines Lebens“ hat Johannes Hees­ters mal gesungen, unser unverwüstliche Frack'n'Zylinder-Hallodri Jopie, der am 5. Dezem­ber 2003 exakt 1000 Jahre alt geworden ist, obwohl es eigentlich schon seit 1945 reichte. Und sein einzigartiges Gedächtnis, welches wir hier an dieser Stelle feiern wollen, ist in der Tat phänomenal, um nicht zu sagen umwerfend, ja, grandios, riesig, großartig, ach was, fulminant, überwältigend und geradezu phantastisch (allein schon, was den Applaus betrifft):
„Die Premiere verlief reibungslos und der Applaus war ... phänomenal.“
„Die Stunde der Wahrheit rückte näher, und - was soll ich sagen – der Applaus war umwerfend.“
„Auch der ‚Bettelstudent’: monatelang ausverkauft und Abend für Abend grandioser Applaus.“
„Dann 1934 die Operette ‚Das Hollandweibchen’: Zugabe, Zugabe, Zugabe! und riesiger Applaus.“
„Im selben Jahr kam's zur Uraufführung der Operette ‚Polenblut’. Das Publikum: großartig und sparte nicht mit Applaus.“
„Der Beifall der Zuschauer war fulminant.“
Na ja.

„Die Proben zur ‚Fledermaus’...“ Applaus! „ ...gestal­teten sich etwas schwierig, doch der überwältigende Applaus blieb nicht aus.“
„1938: Adolf Hitlers Lieblingsoperette ‚Die lustige Witwe’! Meinen ‚Danilo’ hab ich bis heute über 3000 mal gegeben ...“
Applaus! „(...) Dann brandete er wieder auf, der donnernde Applaus.“
„Ich erwachte aus meinem Sekundentraum und hörte immer noch Applaus.“

Und so geht das, meine Damen und Herren, bis heute tagein, tagaus:
„Stehende Ovationen nach jeder Vorstellung. Und ich meine wirklich stehende und nicht etwa gehende Ovationen, wo die Leute schon auf dem Weg an die Garderobe sind, um sich die Mäntel zu holen.“
Ja, ja, ja, is ja gut. Wir glauben’s dir auch so. Applaus, Applaus! Was ich damit sagen wollte, liebe Leser: Das Gedächtnis von Johannes Heesters – es haut einen aus den Wehrmachtssocken. Wenn ‚Erinnerungsarbeit’ eine olympi­sche Disziplin wäre, Leni Riefenstahl hätte allein über Jopie zig verbotene Monster-Streifen drehen dürfen!

Und damit wären wir endlich bei einem eher unange­nehmen Thema.
Meine Damen und Herren!
Die Zeit damals – ich spreche von der dunklen Zeit damals – die dunkle Zeit damals war für alle nicht ein­fach. Viele Menschen hatten damals große Probleme, große Prob­leme auch mit einem gewissen Dr. Joseph Goebbels. Nicht nur der kleine Mann & seine kleine Frau auf der Straße, und nicht nur Leni Riefenstahl – auch Johannes Heesters bekam es bald zu spüren. Und zwar insgesamt 3 mal.

Einmal hatte er 1938 in Holland bei einem Gastauftritt mit einigen Juden auf der Bühne gestanden, (wobei man ehrenhalber dazu sagen muß, daß der Jopie das – und so operettenmäßig dämlich war der nämlich – wahr­scheinlich gar nicht gewußt hatte.) Jedenfalls bekam er deshalb eine Extra-Privataudienz bei diesem Goebbels – und tags drauf Filmverbot! Für wie lange allerdings geht aus seinen „Erinne­rungen“ nicht ganz klar hervor. Im Klappentext steht nur „kurzzeitiges Filmverbot“. Ich tippe mal: es müssen so 3 bis 4 Minuten gewesen sein. Mit Sicherheit aber nicht länger. Sonst hätte Jopie, das deutscheste Gedächtnis aller Zeiten, sich auch daran erinnert.
Egal.

Dann 1940:
Die Deutschen marschieren in Holland ein, und Johannes Heesters in den Knast. Nicht wegen der Musik, sondern überhaupt und weil Jopie - zumindest auf’m Papier – noch Holländer war. Nach 2 Wochen wurde er aber vom Münchener Gauleiter Adolf Wagner zackig wieder rausgeboxt. Schlimm, schlimm ... schlimm war die Zeit.

Ja, und dann war da noch diese Geschichte mit Dachau. Wo er am 21. Mai 1941 angeblich vor der KZ-Wach­mannschaft „Die lustige Witwe“ gegeben haben soll! Und das lassen wir unsern grandiosen Gedächtnis­akrobaten lieber ruhig mal selber singen:
„Hitlers Vorliebe für die ‚Lustige Witwe’ und mich in der Rolle des Danilo machte es mir immer schwerer, die Nähe zu den Mächtigen zu meiden. Wenn er seine Lieblingsoperette sehen wollte, wurde ich bestellt oder eingeflogen.“ Es war aber auch eine verflixte Zeit! Damals. Na denn: „Ebenso wenig verwei­gern konnte ich im Mai 1941 eine Besichtigung des KZ Dachau.“ Gut. Ich mein’, was soll das? So ’ne Besichti­gung, die kann man doch mal machen! Muß man alles mal gesehen haben! Man kann sich dann auch hinterher viel besser erinnern! Oder? „Eines Abends erschien die SS, um uns mitzuteilen, daß wir zum Zweck eines ‚Lagerbesuchs’ am nächsten Morgen zusammen abgeholt würden.“ Oh, Schiete! Von der SS abgeholt werden! Da konnten, ja, da mußten einem natürlich schon mal die Muffen sausen! „Es gibt zahllose Fotos, die an diesem Tag gemacht wurden. Aber diese Bilddokumente zeigen eines nicht – daß ich dort aufgetreten wäre. Daß ich im Konzentrationslager für oder vor jeman­dem gesungen hätte.“
Na denn is ja alles in Butter, Martin Luther. Und – im Vertrauen, meine Damen und Herren, egal ob gesungen oder nicht – wenn der Jopie sich völlig verwei­gert hätte, mein lieber Herr Himmler, er wäre ja garantiert irgendwann von der SS abgeholt worden und nach Dachau gekommen.
Nein, weiß Gott, nicht alle konnten Widerstandskämpfer werden. Rein zahlenmäßig wäre das schon sinnlos gewesen.
„Ich hatte auch gar nicht den Mut dazu“, sagt der Jopie ja sogar selber. Und jetzt mal Hand aufs Herz, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wären doch damals auch nach Dachau gegangen! Oder ge­kommen. Oder wie? Oder wat? Ich war, glaub ich, auch schon mal da.

Wie dem auch sei, kein allzu großer Widerstandskämpfer, unser fescher Tulpenheinikavalier, aber frech war er, frech wie... doch hören Sie selbst! Ton ab:
„Nein, ich habe diesem Danilo übelgenommen, daß er es mir damals so schwer machte, die Distanz zu den Herrschern des NS-Regimes zu wahren. Immer wie­der wurde ich mit solchen Situationen konfrontiert, in die ich lieber nicht geraten wäre.“ Ja, und so dachten damals nich viele Menschen. „Ich erinnere mich noch an einen Abend in München. Wir hatten die ‚Lustige Witwe’ gespielt, und von seiner Königsloge aus ver­folgte Hitler wieder einmal seine Lieblingsoperette. Nach der Vor­stellung saß ich mit Lothar Brühne im Künstlerhaus. Wir kannten uns seit ‚Wenn Frauen schweigen’. Von ihm stammte die Melodie zu ...“ Blablabla. An dieser Stelle verliert er wie öfter mal kurzfristig den Faden und bläst irgendeinen vermufften Operettenplunder auf. Aber weiter: „Mit Lothar Brühne saß ich also im Künstler­haus. Ein Mann trat an unseren Tisch, sah mich an und sagte: ‚Der Führer sitzt im Nebenzimmer und bittet Sie zu sich.’ Dann machte er kehrt und ging.“ Leck mich am Arsch! Da saßen die beiden aber anständig in der Sch...! Wie man auf gutdeutsch sagt. Und dann? „Ich sah Brühne an, der grinste: ‚Was ist denn schon dabei, Jopie? Geh hin, sag guten Abend, denk dir deinen Teil und komm wieder.’“ Bevor du wieder nach Dachau mußt, hahaha! Nee, Quatsch. „Der hat gut reden, dachte ich. Sieht er denn die Photographen nicht? Aber es half ja nichts. Ich ging. Als ich den Nebenraum betrat, standen, wie auf ein lautloses Kommando, alle auf: Hitler, Göring, Hess, von Ribbentrop, Wagner und ...“ nee, nich’ Richard! Adolf Wagner, der Gauleiter! Weiter: „ und Goebbels.“ Ah, der Arsch! Der hatte ihm grad noch gefehlt! Mit dem hatte der Jopie ja noch ein Hühnchen zu rupfen! „Hitler kam auf mich zu, schüttelte mir die Hand, drehte sich zu den anderen um und sagte: ‚Meine Herren, Johannes Heesters!’, was so viel hieß wie: So, und nun begrüßt ihn alle!“ Oijoijoi, die standen ja ganz schön unterm Pantoffel! Näh. „Sie standen im Halb­kreis, reihum gab ich jedem die Hand, bis ich in Goebbels’ Gesicht sah.“ Und jetzt kommt die berühmte Nummer mit Goebbels: „Ein kurzer Blick, er streckte mir seine Hand ent­gegen, ich sah wieder weg und ging weiter.“ Donnerwetter! Respekt, Mann! Was für ein Mann! „Einen kurzen Moment wurde es ganz still im Raum. So, dachte ich, das hat gewirkt. Menschenskinder! Wenn das damals alle gemacht hätten! ‚Danke, meine Herren, noch einen schönen Abend.’ Dann ging ich wieder an meinen Tisch. Ich war mir sicher, alle hatten registriert, daß ich nicht nur den ‚Deutschen Gruß’ verweigert hatte, sondern auch Goebbels’ Händedruck.“
Alle Achtung!
Hand ab! Äh,
Hut ab!
„Die Folgen allerdings waren mehr als erstaunlich. Ein paar Tage später ...“ sprang Rudolf Hess unter wirrem Gequatsche mit’m Fallschirm über England ab und ich mußte wieder in Dachau die ‚Fleder­maus’ machen, nee, war’n Scherz. Also: „Ein paar Tage später rief mich Ufa-Chef Ernst Hugo Corell an, um mich darü­ber zu in­formieren, daß das gegen mich verhängte Filmverbot aufge­hoben sei.“ Bingo!
Deutschland sucht den Superjopie!
Und womit beendet er seine göttliche Komödie? Na, mit einem Satz,
und zwar mit diesem:
„Gottes Wege sind unergründlich.“
Applaus, Applaus, Applaus!

Liebe Leser, ich weiß nicht, ob 100 Jahre zu kurz sind. 368 Seiten aber sind anscheinend auf jeden Fall zu knapp, um im Zusammenhang mit der größten deutschen Menschenmassenabschlachterei der Weltgeschichte auch nur eine einzige Silbe Mitgefühl für die Opfer zu äußern. Daß die Holländer ihn am liebsten heute noch an der nächstbesten Windmühle aufknüpfen würden, kann ich nach diesen 368 Seiten eiskalter, unge­rührter Opportunisten- und Kriegsgewinnlerscheiße mehr als nachvoll­ziehen.
Und noch ein Wort, meine Damen und Herren, zur „Lustigen Witwe“ im Besonderen, und zur Ope­rette – wegen mir – im Allgemeinen, sowieso und überhaupt. Seite 69 schreibt Jopie in einem Anfall von unbegreif­licher Kritiktoleranz:
„Von Karl Kraus ist ein Satz überliefert, den er nach der Pre­miere gesagt haben soll: ‚Das war das Widerwärtigste, was ich je in einem Theater erlebt habe.“
Und das war 1907. Da war der Publikums-Jopie noch nicht mal mit von der Partie.
Prosit!
Gute Nacht.

Jan. 2004.