Vor 500 Jahren entstand in Venedig das erste jüdische Ghetto Europas

von Andreas Rehnolt

Foto © Andreas Rehnolt
Am 29. März vor 500 Jahren wurde in Venedig
das erste europäische Ghetto für Juden auf
italienischem Boden errichtet
 
Venedig - Bereits im 5. und 6. Jahrhundert gab es in Venedig Juden, die von der Stadt jedoch in der Regel nur als Händler aber nicht als Einwohner geduldet wurden. Ein vermehrter Zustrom jüdischer Flüchtlinge setzte im Mittelalter ein. Später waren es Flüchtlinge, die wegen der Inquisition ihre Heimatländer verließen. Am 29. März 1516, also genau vor 500 Jahren, wurde in Venedig das erste europäische Ghetto für Juden auf italienischem Boden errichtet. Die Republik Venedig wies ihnen dieses Wohn- und Arbeitsgebiet zu. Damit wurde der bis dahin geltende, für alle Beteiligten unbefriedigende Zustand von verweigerter oder gewährter, zeitlich begrenzter Zulassung beendet. Den Juden in Venedig wurde per Erlaß ein fester Wohnplatz auf dem Gebiet des noch heute im Originalzustand erhaltenen „Gheto novo“ zugewiesen. Damals rechneten die Stadtoberen von Venedig mit etwa 700 Familienoberhäuptern und ihren Angehörigen.
 
Das „Ghetto novo“ (Heute: Ghetto veccio = altes Ghetto) ist somit das älteste in Europa. Es befindet sich innerhalb des Viertels Cannaregio auf dem Gebiet einer verlassenen Gießerei. Daher stammt vermutlich auch der Name, der wohl von dem italienischen Ausdruck geto für Gießerei abgeleitet wurde, der sich im Laufe der Zeit dann zu gheto oder ghetto lautlich verhärtet hat, erklärt der 46jährige Elias beim Rundgang durch das Ghetto. Die Erlaubnis, sich in dem Stadtviertel der ungeliebten Eisengießer anzusiedeln, galt zunächst nur für die nordeuropäischen und italienischen Juden.
Das Ghetto wurde jeden Abend abgeschlossen und die Tore in der Nacht bewacht, die Kosten für die Bewachung hatten die Bewohner selbst zu tragen. Das Verfahren, bestimmte Wohngebiete in der Nacht zu schließen und zu bewachen, war in jener Zeit durchaus üblich. Allein die hoch angesehenen jüdischen Ärzte durften bei Bedarf das Ghetto nachts verlassen, wurden aber von Wachen kontrolliert und mußten die Namen der Patienten angeben.
Ghettos waren „als Instrument der Ausgrenzung, Entrechtung und Erniedrigung gedacht. Das Ghetto von Venedig als erstes seiner Art, ist deshalb ein unrühmlicher Fleck der Geschichte unseres Kontinents“, erklärte 1996 der Landesrabbiner von Westfalen, Henry G. Brandt in einem Bildband über das Ghetto. Gerade die Mauern der Ghettos zeugten laut Brand „von dem menschlichen Scheitern christlicher Mächte und Institutionen jener Zeit, ominöse, wenn auch ungeahnte Vorboten zukünftiger unbeschreiblich schlimmerer Ausgrenzungen, die zum Versuch der Endlösung durch den Völkermord an den Juden führte.“ 
 
Vom heutigen Bus-Bahnhof aus an der Piazza Roma braucht man wenige Minuten in Richtung Norden, um das Ghetto zu erreichen. „Zur Zeit der Gründung war den zum Christentum konvertierten Juden der Zutritt streng verboten“, erklärt der Musikstudent Aaron. 1516 ließen sich in der Mehrheit „deutsche“ und auch einige „italienische“ Juden im Ghetto nieder. Die alte Bausubstanz ist fast vollständig erhalten, ebenso wie die fünf Synagogen, die damals und heute Versammlungsort und Schule zugleich waren. Die 1538 erbaute Synagoge Scola Levantina hat als einzige ein auffallendes Äußeres. Unter anderem verfügt sie über einen mehreckigen Erker, wie er damals in Venedig üblich war.
Im Ghetto gibt es bis heute die höchsten Häuser in der Lagunenstadt. Die Juden mußten wegen des begrenzten Wohnbereichs, den man ihnen zugestanden hatte, notgedrungen den Wohnraum nach oben hin ausweiten. Die Häuser sind teils sechsstöckig. Die Stadtregierung zwang die Juden, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Dafür gab es im Gegenzug eine Aufenthaltserlaubnis. Allerdings war es den Juden damals untersagt, im Stadtgebiet Grundbesitz zu erwerben.
Die größte Synagoge ist die Scola Spagnola, die nach dem Ende Ende der spanischen Reconquista 1492 im 16. Jhrhundert von den nach Venedig geflüchteten spanischen Juden gegründet wurde. Eine kleine hölzerne Brücke führt über den Kanal mit dem Namen Rio di Ghetto ins Ghetto Nuovo hinein. Dieses Viertel wurde im Jahr 1633 den beiden ersten Teilen des Ghettos hinzugefügt. Dort befinden sich drei weitere Synagogen: Scola Italiana, Scola Canton und Scola Grande Tedesca. Die Scola Italiana wurde 1575 gegründet und ist damit die jüngste Synagoge im Ghetto von Venedig. Sie ist zugleich die schlichteste der insgesamt fünf Synagogen.


Rio di Ghetto - Foto © Andreas Rehnolt
 
Mit der  Eroberung Venedigs durch Napoleon wurden die diskriminierenden Gesetze für die jüdische Bevölkerung aufgehoben, die Tore des Ghettos wurden 1797 verbrannt und die Residenzpflicht aufgehoben. Jedoch erhielten die Juden alle übrigen Rechte wie alle Bürger erst mit der
Gleichstellung im Jahre 1848. Die Gemeinde von Venedig ist die einzige unter den alten großen jüdischen Gemeinden, die das alte Ghetto beinahe unverändert erhalten hat. Von den vor Jahrhunderten üblichen alten Berufen wie etwa Schneider, Schuster oder Straßenhändler gibt es heute keinen mehr.
Es gibt ein sehenswertes Museum der Jüdischen Kunst auch mit umfangreichen Informationen und Exponaten zur Geschichte des Ghettos, eine koschere Bäckerei, ein koscheres Restaurant, eine Buchhandlung und einen Laden, in dem man unter anderem kuriose, kleine, schwarz-weiße Rabbiner-Figürchen in den unmöglichsten Stellungen kaufen kann. Im von zwei Rabbinern nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten Museum sieht man Vorhänge, Manuskripte, zahlreiche Dekorationsgegenstände und Zeugnisse des religiösen und kulturellen Lebens der vielen verschiedenen Gemeinden dort.
Erinnert wird natürlich auch an die Zerstörung des jüdischen Lebens in Venedig. Die geschah 1943/1944 durch die Nationalsozialisten. An die vielen Opfer erinnern die am Campo de Gheto Novo angebrachten Reliefs des litauischen Bildhauers Arbit Blatas, erklärt Museumsmitarbeiterin Rachel. Nach der fast völligen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis kehrten Überlebende und andere, denen die Flucht geglückt war, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Nach den Massendeportationen in die Konzentrationslager der Nationalsozialisten 427 Jahre später wirkt der kleine Bezirk am Rande des Stadtteils Cannaregio heute mit seinen fünf historischen Synagogen wie ein Freilichtmuseum. Heute gibt es dort wieder eine kleine jüdische Gemeinde von vielleicht 700 Personen, von denen nur ein geringer Teil im Ghetto wohnt. Der kleine Bezirk im nördlichen Stadtteil Cannaregio wirkt heute eher wie ein hochinteressantes Freilichtmuseum. 
 
Weitere Informationen: www.venediginformationen.eu/