Schweigen läuft nicht weg. Zum Tod von Christof Stählin 
            „Morgenstund hat Gold im Mund“, gestand mir einmal Christof Stählin. Das scheint seitdem so zu sein. Meine Gedanken am Morgen sind immer wundervoll und ich denke oft schon vor Sonnenaufgang an meinen klugen Freund. Eine Ausnahme der Regel ist vielleicht der heutige Morgen gewesen, wo ich die Mail eines Freundes öffnete, der mir unter dem Betreff „Traurige Nachricht“ die Nachricht überbrachte, daß Christof Stählin gestorben ist. Das kann doch eigentlich nicht sein. Wie kann denn dieser Künstler, der nie so richtig hier war, trotzdem ganz fort sein? Er könnte es erklären. Seine LP „DAS Einhorn“ (1977) war immer eine von den 10 LPs, die ich auf eine einsame Insel mitgenommen hätte. Die Liebe meines Lebens hatte alle Stählin-Platten gehortet, und es ist beruhigend zu wissen, daß man mit jemanden das Leben teilen will, der alles, was wichtig ist von diesem Dichter erfahren hat. Ich traf Christof Stählin mal bei einem Auftritt im Amalthea Theater Paderborn. Wir sprachen den ganzen Abend über, ich weiß nicht was. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt was gesagt habe. Vielleicht lauschte ich nur seinen schönen Sätzen, die alle klug wirkten, auch wenn er nur nach dem Brot fragte. Später ließen wir die Gruppe erstaunt zurück und er lud mich zu sich ins IBIS Hotel ein. Wir saßen dort in seinem Zimmer auf sonderbar bezogenen Stühlen und tranken aus dem kleinen Hotelkühlschrank nichtsnutzig schmeckende Getränke ...und schwiegen. Gibt es etwas Wichtigeres als das Schweigen zweier erwachsener Männer, die sich viel zu sagen haben? Ich hätte ihm immer den Vortritt gelassen. Beim Reiten, beim Singen und in der Applausordnung. Er ist mein Held und meine Hoffnung. Es sollte gerade in Paderborner Hotels üblich sein, daß Dichter ein anderes Zimmer beanspruchen können. Sie sollten im Turm wohnen und rund um die Uhr jemanden haben, der ihnen beim Träumen zuhört. Später habe ich ihm nochmal geschrieben, daß mir seine neue CD „Aus freien Stücken“ (2011) so gut gefallen würde. Daß es eigentlich nicht möglich ist, eine LP wie „Das Einhorn“ zu übertreffen. Selten gelingen einem Menschen zwei Meisterwerke im Leben. Er lud mich dann zu seinem Geburtstag ein. Schweigen macht mehr Spaß, wenn man sich dabei in die Augen schauen kann. Heute hörte ich wieder sein „Reiselied“ und nun bin ich mir sicher, dass Christof einfach wieder unterwegs ist. Wir werden uns wieder treffen. Schweigen läuft nicht weg.  
            Das Reiselied 
            Ich bringe mich zu Wege 
            Ihr Straßen, Brücken, Stege 
            Euch rück' ich ins Gefilde 
            Ihr Förste, Schluchten, wilde 
            Gewitterwolkentürme 
            Ihr Lüfte, Winde Stürme 
            Euch will ich mich beweisen 
            Seht her, ich bin auf Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Und himmelwärts ich treibe 
            Mich manchem Berg zuleibe 
            Und jenseits rasend falle 
            Als flöge ich zu Tale 
            Wie Adler Lüfte spalten 
            Und ihrer Freiheit walten 
            So spott' ich den Geleisen 
            Das macht: ich bin auf Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Der Sturm, das ist mein Mantel 
            Wie Meereswog' mein Wandel 
            Doch kennt er keine Schranken 
            Weil ich in Gedanken 
            Sonn' und Mond besitze 
            Die lass' ich auf der Spitze 
            Der Zeigefinger kreisen 
            Das macht: ich bin auf Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Es treiben in der Runde 
            Meines Geistes Hunde 
            Meiner Glieder Herde 
            Schräg hin über die Erde 
            Ich finde meine Nahrung 
            In keiner Aufbewahrung 
            Mein Dasein will sich speisen 
            Vom Wandern, Ziehen, Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Wie aus dem Sumpf die Blasen 
            Steigen aus dem Rasen 
            Vor mir Totengrüfte 
            In nächtliche Gelüfte 
            Und blüh'nde Wirbel schaukeln 
            Und Irrlichter vergaukeln 
            Mir meinen Weg zu weisen 
            Dorthin geh' ich auf Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Wer könnt' die Freiheit zwingen 
            Sie in den Kerker bringen? 
            Ich dreh' die Faust und sprenge 
            Gefängnismauernenge 
            Und jubelnd um die Weite 
            Ich meine Arme breite 
            Sie an mein Herz zu reißen 
            Zu ihr geh' ich auf Reisen – 
            Ich muss auf Reisen sein! 
            Der Pfaffen Prunksoutanen 
            War'n über unsern Ahnen 
            Lasst uns're Waffen schlitzen 
            Ihre gespalt'nen Mützen 
            Der Schwerterglanz erblitze 
            Auf die Tyrannensitze 
            Ihr Tod soll Freiheit heißen – 
            Auf, Freiheit, geh auf Reisen – 
            Du musst auf Reisen sein! 
            Der Freiheit Goldfanfaren 
            Wer dürfte sie verwahren? 
            Lasst uns're Lippen netzten 
            An diese Kelche setzten 
            Ihr Jubelstrahl soll glänzen 
            An allen Erdteilgrenzen 
            Und ihre tausend Weisen 
            Soll'n um den Erdball kreisen 
            Lasst mich, lasst mich 
            Lasst mich, lasst mich 
            Lasst mich auf Reisen sein! 
            Christof Stählin 
            (1977) 
            Christof Stählin wurde am 18. Juni 1942 in Rothenburg ob der Tauber geboren. Er starb am 9. September 2015 in Hechingen.  
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