E-Postkarte aus Indien - 8.09.15

Als Arzt für 6 Wochen mit German Doctors in Kalkutta (5)

von Johannes Vesper

Kalkutta, Visite im Tbc-Krankenhaus St. Thomas  - Foto © Johannes Vesper

Als Arzt für 6 Wochen mit German Doctors
in
den Slums von Kalkutta (5)

Die Ärzte von German Doctors helfen dort,
wo Hilfe am meisten benötigt wird.

Im St. Thomas Home, dem Tbc-Krankenhaus der Calcutta Church of North India, gegründet 1976, werden 42 an Tuberkulose erkrankte Frauen und Kinder behandelt, darunter Patientinnen mit offener Tbc in 6 Einzelzimmern. Seit 2004 arbeitet die Klinik mit German Doctors zusammen, und Dr. Tobias Voigt, der Langzeitarzt der German Doctors in Kalkutta, hat zu einem Besuch des Krankenhauses eingeladen, stellt Patienten vor, erläutert die Behandlung und zeigt das Labor, in welchem der Auswurf der TBC-Patientinnen mikroskopisch auf Tuberkelbazillen untersucht wird. Einige Patientinnen schildern ihr Schicksal und wir erahnen, was es für die Patientinnen bedeutet, monatelang in den großen Gemeinschaftssälen jede Privatheit aufzugeben bzw. was es für die Familien heißt, monatelang auf die Mutter zu verzichten. Besonders anrührend ist die Krankheitsgeschichte der 12jährigen Rabia, die heute Vormittag aufgenommen wurde. Bei ihr ist die Deformierung ihrer Wirbelsäule infolge Zerstörung durch die Tbc prima vista zu erkennen. Sie muß möglichst schnell operiert werden, weil eine Querschnittslähmung droht. Die Operation ist in Kalkutta für 1000.- € zu erhalten aber es gibt keine allgemeine Krankenversicherung. German Doctors hat dafür jedoch Sponsoren in Deutschland (Pro Interplast Seligenstadt), und Dr. Vogt wird alles tun, damit Rabea in den nächsten Tagen operiert werden kann.
Im Rahmen der staatlichen TBC-Behandlung und Fürsorge fallen auch Hausbesuche bei TBC-Patienten an, um zu erfahren, welche Probleme im Zusammenhang mit der ambulanten Therapie möglicherweise entstehen und wie die Therapie angenommen und vertragen wird. Damit will man Therapieabbrüche vermeiden.

 
Etagengang im Bustee - Foto © Johannes Vesper

Etagengang im Bustee - Foto © Johannes Vesper
So fahre ich zusammen mit Salma und ihrer Kollegin - die beiden arbeiten seit 11 Jahren als Sozialarbeiterinnen bei dem Sozialwerk Howrah Southpoint - in der eRikscha zu Bustees an der GT-Road. In Kalkutta werden Slumregionen auch Bustees genannt. Unsere ersten Patienten besuchen wir in einem Wohnblock mit ca.7 Stockwerken. Einraumunterkünfte von ca. 16 qm mit oder ohne Eingangsflur und mit oder ohne Fenster aber sicher ohne Wasser und Toilette liegen an 25m langen, nicht beleuchteten Gängen von ca. 80 cm Breite. Unser erster Patient wohnt mit drei weiteren Familienmitgliedern zusammen. Wir schauen uns die Krankenakte an, die sich in Indien immer beim Patienten befindet, von diesem verwaltet wird und deswegen auch immer wieder überhaupt nicht auffindbar ist. Unser erster Patient nimmt die vorgeschriebene Medikation ein und gibt keine Probleme damit an. Der nächste Patient wird wegen seiner offenen Lungen-TBC behandelt und lebt in einer fensterlosen Unterkunft  mit allen weiteren Familienangehörigen zusammen. Er wird ermahnt, die Medikation regelmäßig abzuholen und einzunehmen. Einnahmepausen fördern die Resistenz und stellen den Erfolg der Behandlung in Frage.

 
 Kalkutta, Einraumwonun im Bustee - Foto © Johannes Vesper

Einige 100 m weiter, in einer Gegend mit etwas mehr Licht und Platz zwischen den Häusern, scheinen die Wohnverhältnisse etwas günstiger. Der kachektische Alkoholiker mit dauernden Rückfällen ißt nicht regelmäßig, raucht immer wieder, scheint aber aktuell seine TBC-Medikamente vorschriftsmäßig einzunehmen. Die Ehefrau klagt uns ihr Leid. Sie arbeitet und ernährt alleine die Familie. Einen weiteren Patienten treffen wir nicht an. Er sei zum TBC-Zentrum, um seine Medikation abzuholen. Die beiden Töchter auf dem Hochbett freuen sich über unseren Besuch. Zuletzt besuchen wir im 5. Stock eine Mutter mit ihren 21 und 22 Jahre alten Töchtern. Beide Töchter werden wegen offener Lungen-TBC behandelt. Sie zeigen mir die furchtbaren Röntgen-Bilder vom Beginn der Behandlung vor einem halben Jahr und auch spätere Kontrollen, die bei einer eine erhebliche Besserung, bei der anderen noch keinen deutlichen Rückgang der groben Infiltrationen zeigen. Die Mädchen sind aber beide guten Mutes, und vor allem die Mutter scheint glücklich zu sein, daß die Therapie überhaupt durchgeführt wird.


Fröhlich trotz Leben im Slum - eben Kinder - Foto © Johannes Vesper


Kalkutta, Etagengang in einem weiteren Bustee - Foto © Johannes Vesper
 
Immerhin stammt jeder 5. Patient, der in der Welt an TBC verstirbt, aus Indien, obwohl hier inzwischen viel getan wird. Das seit 1996 laufende Revised National Tuberculosis Control Program (RNTCP) ist mit mehr als 300.000 Angestellten das größte Gesundheitsprojekt der Welt und die TB-Mortalität sank zwischen 1990 und 2009 von 42 auf 23 pro 100.000, dabei wird der Erfolg im Hinblick auf die Gesamtzahl aber teilweise durch das schnelle Wachstum der indischen Bevölkerung beeinträchtigt. Die medizinische Behandlung der Tuberkulose ist wichtig und notwendig. Aber ohne Verbesserung der katastrophalen Wohnverhältnisse und ohne erfolgreiche Bekämpfung der Armut - 74.5 % aller Haushalte in Indien haben ein Monatseinkommen von unter 5000 Rupien pro Monat (entsprechend ca. 70.-E)* - wird Indien mit seinem TBC-Problem nicht fertig werden.
 

Hier ist es heute 38 Grad heiß (gefühlt 42 Grad bei gefühlter Luftfeuchtigkeit von 128%), und die Sprechstunde war dementsprechend anstrengend. Uns aber geht es, gemessen an den geschilderten Schicksalen, richtig gut.

Herzliche Grüße vom Ganges
Ihr
Johannes Vesper
 
 
Weiterführend:
Konietzko, Nikolaus et al.: Dtsch Arztebl 2013; 110(6): A-218 / B-204 / C-204
*„The Telegraf“ (Tageszeitung in Kalkutta) vom 07.09.15
 
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