E-Postkarte aus Indien - 1.09.15

Als Arzt für 6 Wochen mit German Doctors in Kalkutta (4)

von Johannes Vesper

Kalkutta, Wasserversorgung - Foto © Johannes Vesper
Als Arzt für 6 Wochen mit German Doctors
in
den Slums von Kalkutta (4)

Die Ärzte von German Doctors helfen dort,
wo Hilfe am meisten benötigt wird.
 
Die German Doctors Ambulanz Tikia-Para liegt direkt im Slum zwischen Straße und Bahndamm. Hier wohnen unsere Patienten unter Planen und Brettern in unmittelbarer Nachbarschaft. Viele andere kommen von jenseits des Bahndamms aus sogenannten Bustees. In diesen großen mehrstöckigen Häuserblocks leben die Bewohner in Einraumunterkünften ohne Wasser, ohne Toilette, im Inneren ohne Fenster. Unter dem Hochbett wird die armselige Habe untergebracht. In jedem Raum wohnt eine ganze Familie und zahlt dafür Miete(!). Bei unserer Ankunft vor der Ambulanz sind die Schlammwäscher, die Edelmetalle aus dem Schlamm des Hugli (Ganges) heraussieben wollen, in unmittelbarer Nachbarschaft schon bei der Arbeit und heute warten ca. 130 Patienten. Ein untergewichtiger, kachektischer Mann liegt in der Sonne. Schwestern, Übersetzerinnen und Fahrer bauen die mitgebrachten Stühle und Untersuchungsliegen auf, ordnen die für die Sprechstunde notwendigen Utensilien und schließen das Notstromaggregat für die Ventilatoren unter der Decke an. Schlag auf Schlag, einer nach dem anderen werden die Patienten herein gebeten und untersucht. Der vor der Ambulanz lag, hustet schwer, als er, von seinen Angehörigen gestützt, herein gebracht wird. 37 kg wiegt er und fiebert mit 39 Grad. Sofort ziehen wir alle zu unserem eigenen Schutz Gesichtsmasken auf. Eine TBC-Behandlung habe er mehrfach abgebrochen. Auf dem mitgebrachten Röntgenbild ist die ausgedehnte Oberlappentuberkulose rechts deutlich sichtbar und mit Hilfe der Auswurfuntersuchung ist die offene TBC schon gesichert. Bei sieben Krankenhausbetten auf 1.000 Inder ist ein Krankenhausbett in einem der wenigen staatlichen Krankhäuser nicht zu bekommen. Wir weisen ihn in ein privates Krankenhaus ein (German Doctors zahlt die Behandlung), starten Umgebungsuntersuchungen in der Familie und hoffen, daß ihm noch zu helfen ist.
 
An sich ist für die Tuberkulose der staatliche TBC-Arzt verantwortlich (einer auf 100.000 Einwohner), der die Behandlung sichert (siehe DOTS-Center ePostkarte 1 vom 15.08.15). Kann unser Patient nach der Akutbehandlung nicht in einem der auch von German Doctors unterstützten TBC-Krankenhäuser zur Langzeitbehandlung untergebracht werden, muß er also zurück in die Slums, beträgt seine Überlebenszeit nur wenige Wochen. In Kalkutta gibt es zahlreiche, ambulante, medizintechnisch modernst aufgerüstete Diagnostikzentren und eine erstklassige medizinische Infrastruktur, die von unseren Patienten aber nicht bezahlt und nicht genutzt werden können. In den staatlichen Krankenhäusern werden die stationäre Behandlung und die ärztliche Visite vom Staat übernommen, aktuell bis maximal 500 $ pro Familie und Jahr (in einigen indischen Staaten bis 2.500.-), die empfohlene Diagnostik aber muß der Patient selbst bezahlen. Das kann sich in Indien allenfalls die sogenannte Mittelschicht leisten. Nur 17% der Bevölkerung sind überhaupt krankenversichert. Wie kommt es, daß Indien als die Apotheke der Welt bezeichnet wird, aber jährlich 63 Millionen Inder durch unbezahlbare Krankheitskosten in die Armut getrieben werden? Aber zurück zu unserer Sprechstunde.


Kalkutta, Warteschlange vor der Ambulanz - Foto © Johannes Vesper


Kalkutta, Kachektischer Mann vor der Ambulanz - Foto © Johannes Vesper


Kalkutta, Schlammwäscher - Foto © Johannes Vesper

Kalkutta, Slum - Foto © Johannes Vesper
 
Auch die nächste 10 jährige fiebert hoch, hat aber darüber hinaus keinerlei weiteren Beschwerden. Die Untersuchung bei brodelndem Straßenlärm auf der einen und Eisenbahnlärm auf der anderen Seite fällt nicht leicht und auf einmal trommelt dazu der tropische Monsunwolkenbruch auf das Wellblechdach. Die kleine Patientin hat laut Schnelltest eine Malaria und kann also gut behandelt werde. Abhorchen ist bei prasselndem Regen zusätzlich erschwert und plötzlich müssen wir die Füße hochziehen, da von draußen das Regenwasser auf den Stampfboden strömt. Bald brennt aber die Sonne wieder auf unsere Hütte. Die Temperatur steigt und steigt, da das Notstromaggregat ausgefallen ist. Es kann aber nach ca. 30 Minuten von unserem Fahrer Vincent gottseidank repariert werden. Heute sind etliche Patienten schwer krank und bedürfen stationärer Behandlung. Dabei gilt der Grundsatz, wer selbst gehen kann, wird nicht stationär behandelt. Als wir gegen 16:00 Uhr die Sprechstunde beenden, sind die Schlammwäscher immer noch beschäftigt, und der kleine Junge läuft, wie schon den ganzen Tag direkt an der stark befahrenen Straße barfuß durch den Müll, während seine kleine Schwester selbst in dieser lebensfeindlichen Umgebung friedlich schläft. Papierdrachen taumeln über den Gleisanlagen, im Slum der verbleibende Spaß der Kinder hier.
 

Kalkutta, Schlaf in lebensfeindlicher Umgebung - Foto © Johannes Vesper
Herzliche Grüße

Ihr
Johannes Vesper