Viel Lob und kein Schatten

"Strike up the Band" im Musiktheater Gelsenkirchen

von Peter Bilsing

An der Matterhorn-Südflanke steppt der Bär


„Strike up the Band“ oder „Der große Käsekrieg“
Vergessenes Gershwin-Musical erstrahlt neu im Musical-Dreamland MiR

Deutsche Erstaufführung, PR 8.12.2007  -  Dialoge auf Deutsch / Songs Englisch

Musikalische Leitung: Kai Tietje  -  Inszenierung: Mattthias Davids  -  Choreographie: Melissa King  -  Bühne: Knut Hetzer  -  Kostüme: Judith Peter  -  Chor: Christian Jeub  -  Fotografie:  Rudolf Majer-Finkes
Sounddesign: Norbert Labudda  -  Dramaturgie: Johann Casimir Eule
Statisterie des Musiktheater im Revier  -  Chor des Musiktheater im Revier  - Ensemble des Ballett Schindowski  -  Neue Philharmonie Westfalen

Solisten (*Besetzung der Premiere):
Horace J. Fletcher: Joachim Gabriel Maaß  -  Joan Fletcher: Leah Gordon /* Anke Sieloff   -  Jim Townsend: Gaines Hall  -  Mrs. Draper: Eva Tamulénas  -  Anne Draper: Filipina Henoch  -  Timothy Harper: Patrick Schenk /* Philippe Ducloux a.G.  -
Colonel Holmes: Wolfgang Beigel  -  Edgar C. Sloane: Frank Engelhardt  -  George Spelvin: Daniel Drewes  -  Vier Soldaten: Sergey Formenko, Georg Hansen, Wolf-Rüdiger Klimm, Charles E. J. Moulton

 
Gaines Hall, Anke Sieloff, Joachim Gabriel Maaß, Eva
Tamulénas, Filipina Henoch, Opernchor des MiR und
Ensemble des Ballett Schindowski

Geniestreich

Mit einem letzten Geniestreich beendet das Musiktheater im Revier nun wohl die große und höchst erfolgreiche Serie von Musicalproduktionen, die unter der jetzt leider zu Ende gehenden Ära des großen Intendanten Peter Theiler (demnächst in Nürnberg), dem fleißigen MiR-Team stets eine Herzensangelegenheit war. Mit diesem „Strike Up the Band“ wird in der Tat wieder dermaßen „auf die Pauke gehauen“ (so auch die Übersetzung!), daß selbst dem abgebrühtesten und vielgereisten Stella-Fan Hören und Sehen verging. In den Staaten wäre diese Produktion sicherster Garant für einen Tony Award. Das Team gab bis zum letzten Mann der Statisterie wirklich alles.
Regisseur Matthias Davids hat sein Dreamteam gefunden. Es ist eine Produktion geworden, die bis ins kleinste Detail meisterhaft und überzeugend gestaltet wurde; sei es die auf Feinste ausziselierte Choreographie von Melissa King, die Broadway-reife Tanz- und Gesangesleistung bietet oder das prachtvolle sich ständig in Bewegung befindende verblüffende Bühnenbild von Knut Hetzer, bzw. die großartig und so originell wie humorvoll gestalteten Kostüme von Judith Peters.

Da sich Kai Tietje wieder als wahrer „Magier im Bühnengraben“ entpuppt und seine aus der „Neuen Philharmonie Westfalen“ speziell ausgewählte 25-Mann-Truppe aufspielen läßt, als wäre Jimmy

 
Filipina Henoch -  Philippe Ducloux
Dorsey ins Leben zurückgekehrt, realisiert sich dieser Abend als eines jener seltenen wahren Ereignisse, denen man nicht nur als Kritiker, sondern auch als Musikfreund eigentlich das ganze Jahr über entgegenfiebertt und die dann dochnur allzu selten eintreten. Von den vorgesehenen 19 Terminen habe ich mich schon jetzt gleich mehrfach eingebucht, denn ein besseres und qualitativeres Gershwin-Musical ist in unseren Breiten zur Zeit kaum zu finden. Musik, besser: „Musiktheater“, das wunschlos glücklich macht. Letzte Vorstellung ist am 20 Mai 2008.

Es geht um Käse

Worum geht es?
Kurzgefaßt: Um nichts anderes als „Käse“!
Und so wurde unseren amerikanischen Freunden von den Komponisten George Gershwin / Ira Gershwin (Songtexte) wie auch dem Buchautor George S. Kaufmann schon im Jahre 1927 unterstellt, daß man auch um Milchprodukte einen Krieg zu führen imstande sei.
Dies sollte uns allerdings nicht unbedingt nur zu denken geben, sondern eher erheitern, denn dieser „Käsekrieg“ wird dank abgeschnittener Uniformknöpfe und des weltbekannt fürsorglich


Ensemble des Ballett Schindowski und Opernchor des MiR
gastfreundlichen Schweizer Hotellerie- und Gaststättengewerbes unblutig geführt und entwickelt sich im Laufe des Stücks eher zu einem besseren Lunchausflug. Auch weil sich die furchtlose Schweizer Armee sicherheitshalber und beständig jodelnd ins heimische Hochgebirge zurückgezogen hat. Mehr zu erzählen wäre Unsinn, bei diesem makaberen Marx-Brothers-Blödsinn. Doch selbst, wer die Marx-Brothers nicht mag, wird in dieser skurill-witzigen Parabel in der es natürlich auch um Liebe, Geld und Ehre geht, bestens unterhalten. Selten wurde übrigens in der Geschichte des Musicals die amerikanische Mentalität so prächtig karikiert. Und so ist folgerichtig der Schluß des Stücks auch gleich Auftakt zu einem (leider nie geschriebenen) zweiten Teil, der dann heißen müßte „Der Kaviarkrieg“. Aber lassen Sie sich überraschen!

Grundlage des Erfolgs der kürzlichen – man höre und staune – „Deutschen Erstaufführung“, war die brillante neue Textbearbeitung von Roman Hinze, basierend auf der bissigen Ursprungsversion der von Tommy Krasker wiederhergestellten Fassung von 1927. Es ist kaum zu glauben, wie aktuell, kritisch und satirisch ätzend (immerhin wurde der Großteil des Originaltextes beibehalten) sich noch dieses mehr als 80 Jahre alte Stück präsentiert. Geradezu ein Lehrbuch für neuzeitliche Musical-Schreiberlinge; was hätten sich Seichtkomponisten à la Elton John, Tim Rice, Andrew Lloyd Weber oder wie sie alle heißen, hier einmal für eine sprichwörtliche Textscheibe abschneiden können…

Dream-Team Sieloff/Hall und andere funkelnde Solitäre


Dream-Team: Gaines Hall - Anke Sieloff
Überragend sowohl im Gesang als auch darstellerisch mein persönliches Dream-Duett Anke Sieloff (Joan Fletcher) und Alleskönner Gaines Hall (Jim Townsend); stimmliche Harmonie und Textverständlichkeit in Perfektion! Schade, daß kein Platz für eine Tanznummer à la „Ninotschka“ vorhanden war.
Joachim Gabriel Maaß bot als Großindustrieller Horace J. Fletcher auch eine schauspielerische Bravour-Nummer (viel zu singen hat er ja nicht), die manchem Burgschauspieler zur Ehre gereichen würde. Hinreißend das junge Paar Filipina Henoch (Anne Draper) und Philippe Ducloux (Timothy Harper); wobei Monsieur Ducloux ein Extralob verdient, denn wie es der Noteinsteiger binnen nur 10 Tagen geschafft hat, sich so perfekt in die Rolle einzuarbeiten, verdient mehr als Respekt.

Unerwarteter Star des Abends und Publikumsliebling war jemand, der eigentlich mehr agieren als singen muß, es ist Allroundtalent Daniel Drewes alias George Spelvin, dessen Rolle im Sinne eines Running Gags mächtig aufgewertet wurde. Seine deutsche Jim-Carrey-Kopie als psychopathische Nervensäge ist allein mit seiner auf den Anarcho-Witz der Marx-Brothers aufbauenden schwarzen Komik auch für reine Filmfans einen Besuch der Inszenierung wert. Genial! Wirklich zum Brüllen. Auch die Nebenrollen wurden von der Grande Dame des Gelsenkirchner Musiktheaters Eva Tamulénas (Mrs. Draper), Frank Engelhard (Edgar G. Sloane) und dem Gast aus Wien Wolfgang Beigel (Colonel Holmes) überzeugend ausgefüllt.

Hier wird noch mehr Sonderlob verteilt

Ein Sonderlob auch allen Statisten und vor allem der Ballett-Truppe. An einem Seil hängend an der

 
Gaines Hall, Anke Sieloff, im Hintergrund: Wolfgang Beigel,
Joachim Gabriel Maaß, Philippe Ducloux, Filipina Henoch,
Opernchor des MiR und Ensemble des Ballett Schindowski
steilen Gletscherwand des Matterhorns dermaßen überzeugend zu steppen, daß uns der Atem stockte, ist mehr als eine Meisterleistung. Darüberhinaus erwähnenswert erscheinen mir persönlich noch die Kostümabteilung, Technik und vor allem die Maske. Selten sah man so perfekte Arbeit, alle Achtung! Ich habe z.B. Gaines Hall wirklich nur an der Stimme erkannt. Die Abstimmung von Lifemusik und Microport-Gesang (Sounddesign Norbert Labudda & seine fleißigen Geister am Mischpult) war vorbildlich. Vielleicht sollte man die Techniker vom Essener Aalto-Nachbarhaus, die gerade Burkhards „Feuerwerk“ lustlos vermurksten, mal zu einem Sommerpraktikum einladen.

Mit dieser Produktion – und da bin ich ganz kühn, angesichts des marginalen Stadttheateretats – profiliert sich das MiR in den obersten Rängen internationaler Musicalbühnen, zur Zeit vielleicht Deutschlands bestes und überzeugendstes Haus in diesem Genre. Musicalfreunde, vergeßt Hamburg, München und Wien, bitte sofort einbuchen und aufmachen nach Gelsekirchen!

Weitere Informationen unter: www.musiktheater-im-revier.de