Poesie der Großstadt

Mit der Ausstellung „Die Affichisten“ erinnert die Frankfurter Schirn an eine fast vergessene Spielart der Nachkriegsavantgarde

von Rainer K. Wick

Arbeiten von Jacques Villeglé und Mimmo Rotella

Poesie der Großstadt

Mit der Ausstellung „Die Affichisten“ erinnert die Frankfurter Schirn
an eine fast vergessene Spielart der Nachkriegsavantgarde
 

Schlüsselerlebnisse eines Wuppertaler Kunststudenten
 
1954 kam ein Student der Wuppertaler Werkkunstschule, der später als Begründer des europäischen Happenings bekannt werden sollte, nach Paris: Wolf Vostell (1932-1998). Gewöhnt an die kriegszerstörten Großstädte Deutschlands, war er überrascht, sich in einer „wenigstens äußerlich intakten Weltstadt“ wiederzufinden. „Der Kontrast war unheimlich. Mir fiel auf“, so schreibt er rückschauend, „daß es keine Ruinen wie in Deutschland gab, jedoch mehr zerrissene Plakate als lesbare, ganze [...].“ Gleichsam als Schlüsselerlebnis kam für den jungen Künstler die Lektüre eines Artikels auf der Titelseite des „Figaro“ vom 6. September 1954 hinzu, in dem über den Absturz eines Passagierflugzeugs der KLM mit 28 Todesopfern berichtet wurde. Er begann mit der Schlagzeile „Peu après son décollage [...]“ und schilderte, daß die Maschine kurz nach dem Abheben vom irischen Flughafen Shannon in den nahen Fluß gestürzt sei. Elektrisiert von der Mehrdeutigkeit des Begriffs „décollage“, der nicht nur den Start oder das Aufsteigen eines Flugzeugs meint, sondern laut Langenscheidts Lexikon auch das „Losmachen [...] des Geleimten“ (also das Gegenteil von Collage) und im übertragenden Sinne sogar „Sterben“ bedeuten kann, machte Vostell die „dé-coll/age“ (so die von ihm bevorzugte Schreibweise) zum zentralen Konzept seines gesamten Œuvres. Dazu gehörte, zumal in seinem Frühwerk, auch die intensive künstlerische Auseinandersetzung mit abgerissenen, zerstörten Plakaten, mit ihrer Ästhetik wie mit ihren inhaltlichen Aspekten.
 
Nouveau Réalisme und die „Affichisten“
 
Damit stand Vostell in den 1950er und 60er Jahren nicht allein. Vielmehr waren es in Frankreich die Künstler François Dufrêne (1930-1982), Raymond Hains (1926-2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926), die innerhalb der 1960 von dem Kritiker Pierre Restany gegründeten Gruppe der Nouveaux Réalistes, zu der Arman, César, Yves Klein, Martial Raysse, Daniel Spoerri und Jean Tinguely gehörten, als „Affichisten“ gewissermaßen eine eigene Fraktion bildeten. Mimmo Rotella (1918-2006), der in Italien mit zerrissenen Plakaten experimentierte, trat 1961 dem Nouveau Réalisme bei, während sich Vostell vergeblich um die Aufnahme in diese Gruppe bemühte, die ihm sogar die Verwendung des Begriffs „Décollage“ zu verbieten suchte.
Die aktuelle Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, die gemeinsam mit dem Museum Tinguely in Basel erarbeitet wurde und dort von Oktober 2014 bis Januar 2015 lief, macht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser sog. Affichisten sinnlich erfahrbar – und erlaubt mit Hilfe des lesenswerten Katalogbuches auch eine theoretische Annäherung.
Sicherlich ist die Bezeichnung „Affichisten“ problematisch. Denn sie beruht, wie Didier Semin im Katalog klarstellt, auf einem „Sprachmißbrauch“, ist doch „auf Französisch ein ‚affichiste‘ ein Grafiker oder Zeichner, der Plakate entwirft, kein Künstler, der sie zweckentfremdet.“ Gleichwohl hat sich dieser Begriff im Kunstjargon längst als Label für jene fünf Künstler, die aus Plakatabrissen Kunst machten, durchgesetzt. Dabei wurde durchaus die sprachliche Nuance gepflegt. Bei Dufrêne ist von „dessous d’affiches“ (Plakatrückseiten) die Rede, bei Hains von „affiches lacérées“ bzw. bei Villeglé von „affiches déchirées“ (zerrissenen Plakaten), bei Rotella von „Decollagen“ und bei Vostell, wie eingangs erwähnt, von „dé-coll/agen“.


Jacques Villegle beim Abreißen von Plakaten in Paris 1963

Wenn die künstlerische Aneignung des Alltäglichen als ein gemeinsames Merkmal sowohl der englischen und nordamerikanischen Pop Art als auch des französischen Nouveau Réalisme der 1960er Jahre betrachtet werden kann, dann gilt dies – beginnend schon in den späten 1940er und frühen 50er Jahren – in ganz spezifischer Weise für die Werke der Affichisten. Sie entdeckten in den Straßen und auf den Plätzen von Paris und Rom den ästhetischen Reiz der von Menschenhand zerstörten oder von Wind und Wetter zerzausten Plakatwände, waren fasziniert von diesen „anonymen Plakatabrissen“, von diesen funktionslos gewordenen Relikten einer urbanen Kommunikationskultur, die sich – längst nicht mehr intakt und nur noch partiell entzifferbar – in oft zahllos übereinander geschichteten Papierlagen manifestierten. Anknüpfend an avancierte ästhetische Praktiken der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, nutzten die Affichisten dieses Material im Sinne des dadaistischen Ready mades bzw. des surrealistischen Objet trouvés, indem sie die zerrissenen Plakate von ihren Untergründen lösten und entweder unverändert als Kunstwerke präsentierten oder durch gezieltes Eingreifen, also durch Entfernen, Umstellen oder Hinzufügen einzelner Partien, umgestalteten. Stärker als in der Objektkunst der damaligen Zeit blieb dabei ihr ausgeprägter Bildcharakter erhalten, und gerade die frühen Plakatabrisse mit ihren unlesbaren Buchstabenfragmenten und abstrakten Farbflächen zeigen eine bemerkenswerte Nähe zur gegenstandslosen Malerei jener Zeit, also zur Bildsprache des Abstrakten Expressionismus und des Tachismus, gegen die die Affichisten eigentlich doch opponierten und die sie erklärtermaßen zu überwinden suchten. Erst um 1960 rückte dann, wie in der Pop Art, stärker die Ikonographie der Konsumwelt, des Starkults und der politischen Realitäten in den Vordergrund, was insbesondere für den Italiener Rotella und den Deutschen Vostell zutrifft.
 
Dufrêne, Hains und Villeglé
 
Eine bedeutende Quelle, aus der die französischen Affichisten in ihrer Anfangsphase schöpften, war der 1945 in Paris gegründete Lettrismus. Es handelte sich um eine literarische Bewegung, die auf die Revolutionierung des traditionellen Sprachgebrauchs durch Reduktion auf einzelne Buchstaben und deren Neuzusammensetzung zu sinnfreien Lautgebilden zielte. Anfänglich ein führender lettristischer Aktivist, war François Dufrêne 1953 vom Lettrismus abgerückt und begann, sich mit der Ästhetik zerstörter, zerfetzter Plakate zu beschäftigen. Dabei interessierte er sich in erster Linie für die Unter- oder Rückseiten der Plakate, also die „Dessous“ mit den durch das Papier durchgeschlagenen, ölhaltigen Druckfarben und den seitenverkehrten Lettern, die sich zudem in umgekehrter Leserichtung zeigten. Indem er „in einer Folge von Decollagen und Grattagen [...] durch ein, zwei drei oder vier Stockwerke hindurch“ in quasi-archäologischer Manier die Schichten der Plakatwände zu durchdringen und partiell freizulegen suchte, gelangen ihm Tableaus von abstrakt-lyrischer Qualität, die jene „Poesie der Großstadt“ entfalten, die für die Frankfurter Schau titelgebend gewesen ist.
Eine enge Freundschaft verband die gleichaltrigen Künstler Raymond Hains und Jacques Villeglé, die sich 1946 an der Kunstschule in Rennes kennengelernt hatten und schon früh als „Räuber zerrissener Plakate“ auftraten. 1949 schufen sie mit dem Gemeinschaftswerk „Ach Alma Manetro“ den ersten kunstgeschichtlich verbürgten Plakatabriß. Es ist offensichtlich, daß diese großformatige Arbeit mit den dominierenden Farben Schwarz, Rot und Ocker dem Lettrismus nahesteht, haben doch die fragmentarischen Schriftzeichen in den meisten Fällen ihre Form, ihre Lesbarkeit und mithin ihren ursprünglichen Sinngehalt verloren. Produktionsästhetisch bemerkenswert ist nicht nur, daß die beiden Künstler hier als Kollektiv agierten, sondern mehr noch, daß die „affiches lacérées“ bzw. „affiches déchirées“ dem Wirken unbekannter Kräfte zugerechnet, also gleichsam als Ergebnis anonymer Werkprozesse begriffen wurden. In dem Maße, wie der Tachismus seine Autorität einbüßte, tauchten in den zuvor tendenziell ungegenständlichen Plakatabrissen von Hains und Villeglé auch gegenständliche Motive auf, die konkrete zeitgeschichtliche Bezüge erkennen lassen, so etwa Anspielungen auf den Algerienkrieg 1961 oder auf den Pariser Mai von 1968.
 
Rotella und Vostell
 
Unter dem Eindruck der gegenstandslosen Kunst der 1950er Jahre überwog anfänglich auch bei Mimmo Rotella das Interesse an abstrakten

Mimmo Rotella, Marilyn, 1963-64
Formen, gegen 1960 verlagerte sich der Schwerpunkt aber auf fragmentarisches Material von Reklamebildern und Kinoplakaten, das er durch Abreißen, Anordnen und erneutes Abreißen transformierte. Intensiv hat sich der Künstler des populären Motivhaushalts der Konsumwerbung bedient, und zahlreiche Decollagen thematisieren den Glamour der Traumfabrik mit Marylin Monroe als der zum Mythos gewordenen Hollywood-Ikone par excellence, die auch Andy Warhol oder Richard Hamilton zu signifikanten Werken der Pop Art angeregt hat. Die Tatsache, daß Rotella mit zerrissenen Materialien und zerstörten Formen operierte, macht allerdings deutlich, daß er bei aller südländischen Sinnlichkeit, die sein Œuvre auszeichnet, sowohl den Verheißungen des Konsums als auch den Verlockungen des Kinos kritisch gegenüberstand. Zwar hat er seine Decollagen einmal eher neutral als „soziologische Dokumentationen“ bezeichnet, doch sprach er auch von der Decollage als seiner „persönlichen Form des Protestes gegen [die] Gesellschaft“.
Gesellschaftskritik ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten künstlerischen Arbeit von Wolf Vostell, die sich, wie oben skizziert, unter dem Leitbegriff der „dé-coll/age“ zusammenfassen läßt. Dies gilt nicht nur für die Plakatabrisse der 1950er und 60er Jahre, sondern auch für die großen Happenings des Künstlers, die in aufklärerischer Absicht und mit moralischem Anspruch den teilnehmenden Menschen prozeßhaft die Omnipräsenz destruktiver Kräfte bewußt machen sollten. Anfänglich hat Vostell Plakatrelikte von Mauern und sonstigen Trägermaterialien abgelöst und in Skizzenbücher eingeklebt, später gewann dann der performative Aspekt mehr und mehr an Bedeutung. So fand im Jahr 1958 in Paris unter dem Titel „Das Theater ist auf der Straße“ eine „dé-coll/age-Demonstration“ statt, bei die informierten Teilnehmer wie auch zufällig vorbeikommende Passanten aufgefordert wurden, die Buchstabenfragmente auf den zerrissenen Plakaten laut vorzulesen – das Erbe des Lettrismus ist unmittelbar greifbar – und „die Plakate weiter ab[zureißen], so daß ständig neue Texte und Bildfragmente entstehen.“ Es ist sicherlich nicht abwegig, dieses erste europäische Happening mit Publikumspartizipation als praktische Umsetzung der bekannten Devise des französischen Dichters Lautréamont aus dem 19. Jahrhundert zu verstehen, nämlich daß „die Poesie von allen gemacht werden“ müsse, „nicht nur von einem“. In zum Teil großformatigen Plakatdecollagen wie „Coca Cola“ oder „Ihr Kandidat“ (beide 1961) hat Vostell dann überaus kritisch auf prototypische Zeiterscheinungen wie die übermächtige persuasive Konsumwerbung und die im Bundestagswahlkampf grassierende politische Propaganda reagiert und damit eine entschiedene Gegenposition gegen die tendenziell affirmative Haltung der amerikanischen Pop Artisten eingenommen.
Mit einer Reihe herausragender Schlüsselwerke ruft die sehenswerte Frankfurter Ausstellung nun das breite Spektrum der künstlerischen Ausdrucksformen der Affichisten in Erinnerung und bietet damit einen gelungenen Überblick über diese interessante, aber fast vergessene Facette der Kunst der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Krieg.


Wolf Vostell, Coca Cola, 1961
 
Alle Fotos © Schirn Kunsthalle Frankfurt
 
Katalogbuch:
„ Poesie der Großstadt. Die Affichisten“, hrsg. v. Esther Schlicht, Roland Wetzel und Max Hollein
 
© 2014 Snoeck Verlag, Köln, 280 Seiten, Softcover, 170 Abbildungen dt./engl. Ausgabe - ISBN 978-3-86442-103-7 (Buchhandelsausgabe)
32,-  € (Schirn) / 48,- € (Buchhandel)
Weitere Informationen: www.snoeck.de/