Die Hütte auf Connemara

von Karl Otto Mühl

Der Kuß - Foto © Jörg Brinckheger / pixelio.de

Die Hütte auf Connemara

Da an der Küste der Halbinsel Connemara hat sie zuletzt in ihrer Hütte gewohnt, Tatjana, als alt gewordene Frau. Da passierte nichts außer dem, was die Natur unternahm oder wenn der Nachbar etwas Nachdenkliches sagte. Tatjanas Mann war gestorben, eine Tochter lebte in Galway, ein Sohn in Dublin.
Doch, lange Briefe schrieb sie mir in den letzten Jahren, ich möchte kommen oder: ich möchte mit meinem Sohn kommen, und – später – ich könne ja auch mit meiner Frau kommen; nur kommen sollte ich –
Und dabei hatten wir doch nur eine einzige Nacht, na ja, auch einen Abend, aber das vor fast dreißig Jahren.
 
Wir arbeiteten im gleichen Konstruktionsbüro, sie als Zeichnerin, ich als Ingenieur. Ob sie schön war? Weiß ich nicht. Man sah sie an und spürte federnde Bewegungen an ihr und sah das Glitzern in ihren Augen. Sah auch die kraftvoll hervortretenden Wangenknochen, dachte vielleicht an Steppe und Dschingis Khan. Oder an Fleisch, das unter ihrem Sattel mürbe geritten wird, während ihre Haare flattern.
Ihr Schreibtisch war neben meinem, und irgendwann fingen wir an, uns kleine Zettel mit Bemerkungen zuzuschieben. Irgendwann stand auf einem, ich könne sie am Abend auf dem Nachhauseweg begleiten.
Tat ich, und, ich muß sagen, heute, nach einem Zeitalter, habe ich diesen ersten Kuß unter einem Baum, auf raschelndem Laub stehend, nicht vergessen. Ein flammendes Gefühl packte mich damals von oben bis unten, oder umgekehrt, und es ließ den Rest von Gehirn, den ich besaß, schmelzen.
Beim Küssen merkte ich beseligt, daß ihr Atem heftiger und stoßweise wurde. Der Rausch überkam auch sie.
 
Für den nächsten Abend verabredeten wir uns in der Gartenlaube ihrer Eltern. Der Regen prasselte auf die Holzhütte, die Welt vor dem kleinen Fenster war grau und naß, die Bank in der Hütte war hart und nur mit einer Wolldecke bedeckt, aber Tatjanas Körper war hell, weich und warm.
Am morgigen Abend könne ich bei ihr zu Hause übernachten, sagte sie, ihr Vater habe Nachtschicht. Wo die Mutter war, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht waren die Eltern geschieden.
Meine Erinnerung reicht nur bis zu dem Bett, in dem wir beide uns aneinander drückten. Eine heiße Begrüßung war vorausgegangen, fällt mir ein; ich erinnere mich sogar, daß da unter dem Kleid wohl nicht viel an Textilien war. Es war wieder eine berauschende Begegnung, in der alle mögliche Gegenwehr verbrannte – bis wir plötzlich das Geräusch der Wohnungstüre hörten.
Ihr Vater war doch heimgekommen. Ich verkroch mich unter der Bettdecke und hörte, wie er ihr eine gute Nacht wünschte. Anscheinend bemerkte er mich nicht oder wollte es nicht. Als wir uns am nächsten Morgen aufmachten, schlief er noch.
 
Bei der Arbeit schob sie mir einen Zettel zu, ich möge sie am Abend zu ihrem Verlobten begleiten, der mit seinem Blinddarm im Krankenhaus lag. Das war zwar eine Überraschung für mich, aber keine so ganz große, weil ich ohnehin irgendwie betäubt im Liebesrausch war, und mir selbst auch nicht vorstellen konnte, ich selbst wäre für die Rolle eines Verlobten geeignet. Ich kam mir frei von jeder Verantwortung vor. Heute wundere ich mich, daß es mich nicht mehr beunruhigte, daß sie einen Verlobten hatte und daß sie ihn mit mir zusammen besuchte. Was sie dabei dachte, werde ich niemals ganz erfahren.
Der Verlobte, er hieß Egon, war ein freundlicher, rotbackiger, junger Mann. Wir standen an seinem Bett und sprachen mit ihm, und auch darüber wundere ich mich heute noch. Mein Mitkommen schien ihn nicht zu erstaunen. Mehr habe ich übrigens nie über ihn erfahren.
 
Die Ereignisse ließen mir auch wenig Zeit. Am nächsten Tag schob sie mir vom Nachbar-Zeichenbrett aus einen Zettel zu, sie wolle mich in der Mittagspause sprechen. Wir trafen vor der Cafeteria im Herbstsonnenschein aufeinander, und sie sagte mit niedergeschlagenen Augen: „Wir können nur zusammen bleiben, wenn wir uns innerhalb der nächsten vierzehn Tage verloben.“
Was wurde von mir verlangt? Den seligen Rausch für alle Zukunft fortzusetzen? Wollte ich das, gab es das überhaupt? Was ging in ihr vor?
Ich habe als Junge noch die Bomben auf unsere Stadt fallen hören, sogar das Kreischen von Granateinschlägen habe ich gehört. Aber diese Worte erschreckten mich mehr. Sie trafen mich allein, nur mich. Sie waren kalte, harte Realität, die mich herausriss aus dem warm gefütterte Alltag.
Seit diesem Augenblick weiß ich, daß Frauen Explosivkörper sind. Man weiß nie, wann sie explodieren. Und mir fällt ein Kinder-Ausspruch ein, den ich kürzlich gelesen habe: „Vom Küssen muß man heiraten.“
 
Zwei Tage später – wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen – gab es das nächste Drama. Es gab eine Anweisung, sie kam vom Chef, daß Tatjana mit ihrem Tisch und Zeichenbrett in einen anderen Raum versetzt werden solle. Dies geschah auch.
Ich muß mich sehr geschämt haben, daß wir aufgefallen waren. Wahrscheinlich habe ich diese Tage in einer Art Anästhesie überstanden – wenn ich durch das Büro ging und spürte, wie mir die Blicke der Kollegen folgten.
In den folgenden Wochen begegnete mir Tatjana nie, wahrscheinlich blieb sie in der Mittagspause im Büro. Und danach war sie plötzlich verschwunden. Es hieß, sie sei im Ausland.
Statt Tatjana beschäftigten mich nun die Folgen. Auf einmal hatte ich eine vegetative Dystonie, so sagte der Arzt, eine Krankheit, die man heute seltener so nennt. Ich fühlte mich krank, gefährdet, geschwächt, nicht voll einsatzfähig. Schwere Beine; Herzklopfen, Frösteln; Stiche in der Brust, alles machte mir Angst und ließ mich ein baldiges Ende fürchten. Natürlich ging ich weiter zur Arbeit, aber darüber hinaus nahm ich mir nichts vor.
 
Erst nach etwa zwei Jahren klang dieser Zustand ab. Initiative spürte ich aber erst wieder, nachdem ich die Firma gewechselt hatte, zu einem Freund, der Architekt für Industriebauten war. In dieser Zeit nahmen wir zusammen mit einer befreundeten Firma an einer Messe in Moskau teil. Ich stand vom Morgen bis zum Abend in der Hotelhalle, wo die Ausstellung ausgerichtet war.
Moskau, das klingt weitgereist und weltläufig, aber ich erlebte eigentlich nur die zwei Tage in der verschneiten Stadt, Fahrten zu Regierungsgebäuden im Lada durch verschneite Straßen zu Behörden, Trinksprüche mit Ansammlungen von Ministern; Schnaps, Ministeriale, Gespräche, dazu abends im Hotelrestaurant Menschengewimmel, Wein, russische Jeunesse dorée, westliche Musik trotz Kommunismus.
Was sich in der Hotelhalle an den Nachbarständen abspielte, beachtete ich nicht. Ich kannte weder die Produkte noch die Schwerpunkte der Mitaussteller. Woher auch.
 
Am zweiten Tag der Messe gab es eine Überraschung für mich. Von einem der Nachbarstände kam ein stämmiger, jüngerer Mann an unseren Stand, der nach mir fragte.
Er stand mir gegenüber, ein freundliches Gesicht, rötliche, drahtig-dichte Haare, ein echter, kraftvoller Ire.
 
Ob ich eine Kollegin namens Tatjana gehabt hätte? Ich bejahte. Natürlich kannte ich so eine.
„Ich bin mit ihr verheiratet“, sagte er. „Soll ich sie grüßen?“
Natürlich sollte er. Drei Kinder hätten sie, fügte er hinzu. Sie lebten in Galway, also im Nordwesten von Irland.
Mehr erfuhr ich nicht, mehr hätte ich auch nicht zu fragen gewußt. Es blieb das Gefühl, daß wir im Unbestimmten Segelnde sind, ein Leben lang, und an Kaps oder Landspitzen segeln wir aneinander vorbei und winken uns zu; aber um ein Kleines würde dieses Treiben-Lassen und Segeln auch körperlos sein, wir, nur noch treibendes Bewußtsein, leicht wie ein Frühlingshauch unter blassem Himmel – aber, bei solchen Grübeleien versuchte ich dann immer rasch, an etwas Konkretes zu denken, zum Beispiel an die winterlich verdorrten Sträucher entlang meiner einsamen Spaziergänge. Das half meistens.
 
Viele Jahre hörte ich nichts von Tatjana. Vor einigen Jahren begannen dann ihre ersten Anrufe und erreichten mich ihre ersten Briefe. Die Briefe waren lang, obwohl nichts zu berichten war. Es schien nichts zu passieren. Sie lebte einfach allein. Ich weiß nicht mehr, was darin stand.
Natürlich schien alles großartig zu sein. Keine Vorstellung habe ich von der grandiosen Natur, keine Ahnung vom Meer, keine Ahnung von dem Gefühl, wenn man da oben oder da unten stehe. Manchmal sage der Nachbar dieses oder jenes, aber alles sei ganz großartig – und sie sei glücklich. Selten fahre sie nach Dublin, wo ein Sohn und Enkelkinder lebten.
Ihre Briefe und Mitteilungen enthielten durchweg immer die gleichen Informationen, ja, dieselben Sätze. Freilich, auch damals, vor Jahrzehnten, hatte sie Unverbundenes manchmal sehr schroff und erstaunlich inkohärent ausgedrückt, etwa „So ein Tier würde ich niemals berühren. Aber, wenn ich Ziegenkäse esse, gehe ich immer aus der Küche. Das waren noch Zeiten, als ich mich um Tante Babs kümmerte …“
Obwohl ich die herauspurzelnde Art zu sprechen bei ihr zu kennen glaubte, kam sie mir immer merkwürdiger vor. Ich fragte sie einmal, ob sie schon einmal mit einem Arzt oder Psychiater gesprochen hätte. Ach, sagte sie, das wisse sie ja alles. Sie sei so erfüllt von Wohlgefühl …
Ob sie denn nicht einmal zu Besuch komme, fragte ich. Daß man miteinander reden könnte.
„Ach“, sagt sie, „ich war ja letzte Woche da, in eurer Stadt, bei meiner Schwester. Nein, dich wollte ich nicht anrufen. Du kommst ja sowieso bald herüber.“
Das erschreckte mich.
 
Nach einigen Wochen war ihr Telefon tot. Sie war nicht mehr zu erreichen. Ich hatte die Telefonnummer ihrer Tochter in Dublin, aber als ich anrief, kam ein derartiges Sprach- und Ansage-Gewimmel aus dem Hörer, daß ich entmutigt auflegte.
Ich denke, sie ist entweder gestorben, oder ihre Kinder haben sie zu sich genommen, oder sie ist in einer Anstalt.
Die Tatjana meiner Vorstellung segelt im Unbestimmten. Die Fragmente ihres Lebens – also, was ich von ihr weiß – scheinen zu nichts zu führen und liegen als Rätsel vor mir. Ich habe es noch nicht verstanden. Sie scheint irgendetwas von mir erwartet zu haben.
Das Ganze muß vielleicht irgendwie anders erledigt werden.
 


© 2015 Karl Otto Mühl

Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker