Ein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen

Ian McEwan – „Kindeswohl“

von Sabine Naber

Ein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen
 
Soeben ist Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“ erschienen. Und einmal mehr erweist sich der Autor, der mich schon mit seinen Büchern „Abbitte“ oder auch „Saturday“ fasziniert hat, als grandioser Erzähler. Nicht zuletzt, weil er den Konflikt zwischen weltlichem Recht und religiösen Geboten so klar heraus stellt, es aber auch so spannend deutlich zu machen versteht. Hier untermauert er, was er einmal in einem Interview gesagt hat: „Wahres Mitgefühl erwächst aus einem Verstand, der eine Situation umfänglich erfaßt, der sich nicht irgendwelchen religiösen Gesetzen oder emotionalen Impulsen unterordnet.“
 
Seine Protagonistin ist Fiona May, Ende 50 und Familienrichterin am High Court in London. Gerade hatte sie die Schlußplädoyers im Scheidungsverfahren jüdischer Eheleute gehört, die, in ungleichem Maße orthodox, darüber stritten, wie ihre beiden Töchter erzogen werden sollten. Einen Tag später würde eine verzweifelte Engländerin erneut vor ihr erscheinen, die überzeugt war, daß der Vater, ein marokkanischer Geschäftsmann und strenggläubiger Muslim, plane, die gemeinsame Tochter der britischen Gerichtsbarkeit zu entziehen. Dazu kommen die Rangeleien um den Wohnort der Kinder, um Häuser, Renten, Einkünfte, Erbschaften. Und genau jetzt erfährt sie von ihrem Ehemann Jack, einem Geschichtsprofessor, mit dem sie seit mehr als 30 Jahren verheiratet ist völlig unvorbereitet, daß er sie zwar liebt, aber trotzdem noch einmal eine leidenschaftliche Affäre erleben will – und zwar mit seiner 28-jährigen Mitarbeiterin.
 
Die Richterin muß sich vorrangig um den Fall eines 17-jährigen Jungen kümmern, der an Leukämie leidet und dringend eine Bluttransfusion braucht, weil er sonst qualvoll sterben oder stark geistig und körperlich behindert weiterleben wird. Aber seine Eltern, Zeugen Jehovas, lehnen das aus religiösen Gründen ab – ebenso wie der junge Mann selbst. Fiona May, die sich wohl mehr als üblich für den todkranken Jungen engagiert, besucht ihn im Krankenhaus, macht ihm klar, was auf ihn zukommen kann: „Ich sage dir, warum ich hier bin, Adam. Ich möchte mich vergewissern, daß du weißt, was du tust. Manche Leute denken, du wärst zu jung, um eine solche Entscheidung zu treffen, und du stündest unter dem Einfluß deiner Eltern und der Gemeindeältesten. Andere halten dich für ungewöhnlich klug und erwachsen und meinen, wir sollten dich einfach machen lassen.“
Sie läßt ihn nicht einfach machen. Und trifft damit eine Entscheidung, die unvorhersehbare Folgen nach sich zieht. Denn Adam versteht, mit Blick auf die Reaktion seiner strenggläubigen Eltern, plötzlich die Redensart: „Ein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen“. Und das stellt sein ganzes Leben auf den Kopf.
 
Ian McEwan – „Kindeswohl“
Roman
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
 
© 2015 Diogenes Verlag, 224 Seiten, Hardcover Leinen - ISBN 978-3-257-06916-7
€ (D) 21.90 / (A) 22.60 / sFr 29.90*
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch