Dialekt und Mentalität (2)

Am Beispiel des Eis verdeutlicht

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker
Dialekt und Mentalität (2)

Am Beispiel des Eis verdeutlicht
 
Also gucken wir mal: wie sieht das denn im Rheinland aus? Nun haben wir ja im Rheinland folgenden Fall: es wird von der Benrather Linie in zwei Teile geteilt. Die Benrather Linie liefe, so heißt es, von Benrath bis rüber nach Wuppertal. Was natürlich Quatsch ist, weil Wuppertal ein Kunstwort ist: entweder geht die Linie nach Elberfeld oder nach Barmen. Weil Barmen aber Westfalen ist, kann sie nur nach Elberfeld laufen, was die zweite Frage aufwirft: Glauben Sie, irgendetwas könnte jemals von Benrath nach Elberfeld laufen? Also bitte! Und vor der Benrather Linie sei das richtige Rheinland und dahinter Düsseldorf und die billigen Plätze, und wir hätten drei und die nur zwei Lautverschiebungen und so. Ist aber alles Blödsinn. Die Benrather Linie verläuft nicht etwa in der Landschaft sondern sie ist eine anatomische Linie, sie läuft im Körper! Die Benrather Linie geht vom Ohr über das Trommelfellchen zum Amboß und dann über den Steigbügel und die Eustachische Röhre runter zum Zäpfchen und kurz dahinter trennt sie den Körper, also die Sprache, in das vordere und das hintere Rheinland. Das vordere Rheinland ist das klassische Rheinland, also Worringen, Köln, Bonn 1, Bonn 2, Bonnsai und ein bißchen Remagen noch, da also wird das Wort Ei vorne, korrekt, wie es sich gehört, ausgesprochen:
„Ich hätte jään zum Frühstück ein Ei-schen“ fertig, was natürlich die korrekteste Art überhaupt ist, dieses Wort auszusprechen und so sind die richtigen Rheinländer ja auch: eindeutig, klar heraus, präzise und korrekt.
Ganz anders schaut es hinter der Benrather Linie aus, also jetzt vom Zäpfchen, dem Grenzkontrollposten quasi, den Hals runter. Nehmen wir mal Aachen als Beispiel. Wenn so ein richtiger Aachener, ‚ne Öcher (mit kurzem Ö und ganz feuchtem ch!) das Wort Ei ausspricht, ist das Wort, schon bevor er es ausspricht, im Magen drin. Es wird bis zur Benrather Linie hochgelassen, um vom Zäpfchen sofort wieder nach unten gedrückt zu werden, und das hört sich dann so an: „Ich hätte mal gerne zum Frühstück ein Ei, wa!“. Wenn Sie eine Ahnung haben wollen, wie die Öcher ihr Platt ‚mulle’ (sprechen), dann versuchen Sie diesen Satz so auszusprechen, als müßten Sie gleichzeitig ein Rülpsen unterdrücken und deshalb den Hals hinten so eng fassen, daß nichts raufkommt. Eine hübsche Übung für die Feiertage (Vorsicht: Brechbeutelchen in Reichweite halten!).
 
Ganz anders ist es, wenn wir jetzt mal weiter nach Süden gehen, ins Hessische. Im Hessischen, aber das wissen Ärzte natürlich besser als ich, ist ja schon die Anatomie eine ganz andere, Sie wissen ja auch, daß der Voss-Herrlinger da völlig falsche anatomische Angaben macht, ganz abstruse Vorstellungen geistern da durch die Lehrbücher.
Also in Wirklichkeit ist es so: der normale Mensch, also der Nicht-Hesse, hat im Gehirn ein Sprach- oder Sprechzentrum. Das muß man sich so vorstellen: mitten im Gehirn drin ist so ein Knubbel, so ein Beutelchen, da sind jetzt die Wörter drin. Wenn man jetzt, sagen wir mal, was sagen möchte, dann schaut man da rein, so nach dem Motto: Was haben wir denn noch da, was ist noch nicht verbraucht. Dann werden die paar Wörter, die man braucht, oder eben solche, die denen ähnlich sind, die man gerne gebraucht hätte (und schon sind wir bei der Erklärung des Phänomens „Stefan Raab und der Sprachzerfall“: da ist einfach nix mehr im Beutelchen drin, was man brauchen könnte – alles dem Sprechdurchfall zum Opfer gefallen!) herausgenommen, die werden dann durch das Gehirn hinten in der Hals hinein am Zäpfchen vorbei durch die Lippen raus geschickt, fertig. Das ist also der Normalfall. Dieses Sprach und Sprechzentrum ist das Broca’sche Sprechzentrum, das ist quasi hinter dem linken Ohr also innen drinnen, also unterm Knochen, klar, wäre ja auch Quatsch sonst, da hätte ja jeder am Ohr da so einen Beutel hängen, und wenn man mal eine gescheuert bekommt, ist man sprachlos, das wäre natürlich unsinnig.
Das ist jetzt aber beim Hessen vollkommen annerscht. Der Hesse hat das Sprach- und Sprechzentrum nicht mehr zentral im Gehirn angesiedelt sondern hat es quasi als dezentralisierte Außenstelle in den vorderen linken Nasenflügel verlegt, was natürlich Konsequenzen hat. Zum einen bedeutet das, daß der Wortschatz wesentlich kleiner ist als bei anderen Menschen, weil: soviel hat da einfach nicht Platz, und wenn einer mal Schnupfen hat, zweimal schneuzen, schon ist wieder eine Sprache ausgestorben quasi. Der Hesse steht dann wortlos und sprachlos rum und muß erst mal warten, bis sich wieder so ein paar Wörtchen angesammelt haben, damit er wieder den Mund aufmache kann. Zum anderen erklärt sich dadurch auch natürlich der leicht nasale Klang des Hessischen. Andererseits hinwiederum erklärt sich genau aus dieser Tatsache, daß der Hesse wesentlich schneller babbele kann als jeder andere sprechende Mensch auf der Welt, weil: die Wörter misse ja net den langen Weg durch ganze Gehirn durch, sondern die dröppele aafach von der Naas uff die Lipp und zack! sind sie draußen! Und es erklärt sich dadurch natürlich auch, daß der Hesse erschtemol babbelt und dann später, vielleicht, nachdenkt, weil: geht ja gar nicht anders: nachdenken kann er ja erst, wenn er gehört hat, was er gebabbelt hat, vorher weiß er’s ja gar nicht, weil die Wörter eben nicht durch das Gehirn gelaufen sind! Nun ist aber interessant, wenn der Hesse jetzt zum Frühstück ein Ei bestellen möchte, dann ist das nämlich so: das Wort EI tröpfelt von der Nase auf die Lippe und kullert jetzt, vom Gaumensegel mühsam am Geschluckt-Werden gehindert, im Mundraum herum. Hinter den Schneidezähnen aber wird das Wort geteilt. Das E bekommt einen Linksdrall, oder Linksspin wie die Physiker sagen, das I bekommt einen Rechtsspin, wird also rechtsdrehend, was die Ökotrophologen wieder freut, und das Wort verläßt sage und schreibe stereo den Mund des einzelnen Hessen und hört sich dann ungefähr so an: „Ei ich hättemol gänn zum Frühstück, do hätt ich emol gänn so a klaans Oi–sche!“
Das ist unglaublich! Und so ist er auch, der Hesse: quirlig, immer nach zwei Seiten drehend, ein Wildfang, ein Sausewind par excellence, und im Zweifelsfall fliegt er wie der kleine Robert mit dem Regenschirm durch die Lüfte. Wunderbar!
 
Ganz anders ist es im Schwäbischen... Der Schwabe isch ja extrem mißtrauisch gegenüber allem, was von außerhalb kommt. Es gibt aber einige Wörter, die zeigen, daß auch der Schwabe zu Liebe und tieferem Gefühl fähig ist. So ein Wort ist das Wort Ei. Er begegnet diesem Wort mit einer derartigen Liebe, die hätte man dem Schwaben gar nicht zugetraut. Er färbt das e vom Wort Ei in einen dunklen Vokal, er weiß – oder er hat das zumindest mal glääse – daß in den dunklen Vokalen das Gefühl, das Gemüt, liegt, er hängt an das i eine Diminuitiv, eine Verniedlichungsform dran, er hält das Wort in der Hand wie ein kuscheliges kleines Pelztierchen, das man streicheln kann (der Hesse würde sagen: so ein rischtischä Handschmeischlä), und er sagt dann: „Ei i hätt gern zum Frühstück so e kloins Oi-le!“
 
Ganz anders wieder ist das in Bayern, das man sprachlich gesehen grob in zwei Teile einteilen könnte, aber wie anders sollte man Bayern einteilen, wenn nicht grob: nehmen wir mal den klassischen Bayern, der Bayern aus München – Ost. Der also spricht dieses Wort Ei wie alles, was er in den Mund nimmt, ausgesprochen barsch aus, das klingt dann ungefähr so: „I hätt gern a Ai!“
Das ist so dasselbe Ai wie in „Paraguaä“ oder noch feiner „Uruguaä“. Dabei muß man den Unterkiefer so breit wie möglich si weit wie möglich nach unten pressen und dabei sprechen. Da hätte jeder andere schon antiperistaltisch reagiert, da ist es aber eine Sprache, eigenartig, oder?!
Ganz anders ist es in Oberbayern, im Allgäu: überall wo Berge sind, herrschen völlig andere Gesetze. Überall wo Berge sind, auch in Asien oder sonst wo, wird die Sprache leichtfüßig, elegant, trittsicher und geschwind. Gemsengleich springen die Wörter von Felsen zu Felsen, balancieren über Schluchten und Abgründe mit einer Virtuosität, die ihresgleichen sucht. Im Allgäu kehren sich also die Vokale um, weil sie dann an Geschwindigkeit zunehmen: da heißt es dann „Geah, bringst ma a Oa! Naa, koane zwoa Aia, oa Oa, dös langt!“
Hier zeigt sich schon die Eigenköpfigkeit des Bayern, der Stolz auf völlig andere Wege der Lautfindung, kurz: der Freistaat, der ja nicht mit einem Schild an der Grenze anfängt sondern im Kopf jedes einzelnen Bayern.
Den Vogel schießen aber die Südtiroler ab. Sie lassen sich erst gar nicht auf den Streit darüber, was denn wohl die richtige Aussprache des Wortes Ei sei, ein. Sie haben ein eigenes Wort und zeigen damit, wie unabhängig sie immer schon waren und wie eigenständig sie zwischen diesen beiden Kulturräumen, dem mediterran-römischen und dem germanischen gelebt haben. Ei? Niemals. In Südtirol heißt das: „I hätt gearn a Goggile“!
 
In diesem Sinne: Guten Appetit!
Ihr
Konrad Beikircher