Der alte Mann 5     Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren.  
            Er  stand vor dem Dom und konnte sich von dessen Anblick nicht lösen. Wie  oft er schon hier gestanden und zu dem Turm aufgeblickt hatte. Er war  noch da. Zum Glück kam in Paderborn nichts weg.  
                Es  war Samstag. Der Markt war aufgebaut und der alte Mann wollte noch  Äpfel (aus dem Alten Land) kaufen. Die Sonne schien, aber es war noch  kalt. Der Winter war noch nicht vorbei. Es sollte Schnee kommen. Der  alte Mann stand vor dem Stand der Gärtnerei Rodenbröker. Geduldig  wartete er darauf, daß eine der bedienenden Frauen ihn wahrnahm.  
                Einmal  hatte ihn seine Frau auf dem Markt vergessen. Er schüttelt immer noch  den Kopf, wenn er daran dachte. Wie kann man einen Mann auf dem Markt  vergessen? Sie hatte ihn nicht nur vergessen, sondern auch nicht einmal  vermißt, und dabei hatte er die Äpfel (aus dem Alten Land) bei sich. Er  war immer seiner Frau gefolgt. Sie besaß die besseren Ortskenntnisse,  war quasi sein Navi gewesen. Er war immer hinter ihr her gedackelt, wenn  sie zum Markt gingen und trug die Dinge, die sie eingekauft hatten. Und  wenn sie dann sagte: „Sie haben ihr Ziel erreicht“, wußte er, sie waren  im Café Bodemann und gleich gibt es Kuchen. Sie hatte an dem Tag ihre  alte Freundin Uschi getroffen, und Uschi wollte ihr Schuhe zeigen,  welche sie im Schaufenster bei Schlüters gesehen hatte. Seine Frau  hatte  gesagt, er solle einfach vorm Café Bodemann stehen bleiben, sie käme  gleich wieder und würde ihn abholen. Und dann hatte sie ihn vergessen.  Er stand da mit dem Korb voller Äpfel (aus dem Alten Land)  und sie hatte ihn vergessen.       
                Zuerst  hatte er sich keine Sorgen gemacht. Er hatte sich umgeschaut und war  sich sicher, daß sie gleich kommen würde um ihn abzuholen. Schließlich  war er ja ohne sie überall fremd. Mutterseelenallein sah er dem Treiben  auf dem Markt zu. Er wußte, gleich würde seine Frau kommen um ihn wieder  abzuholen..., aber sie kam nicht. Die Zeit verging. Er stand da wie  eine Eins in der prallen Sonne, wie der Zeiger einer Sonnenuhr und  fühlte sich allein. „Hallo!“ Manchmal kam jemand vorbei und sagte: „Ohne  ihre Frau hätte ich sie beinahe gar nicht erkannt“, aber ansonsten  erregte er kein Aufsehen. Zum Glück war damals kein Hund mit dabei, den  man auch hätte vergessen können. Nicht auszudenken, wenn er sich auch  noch Sorgen um seinen Hund hätte machen müssen. So war er ganz allein  allein. Er schaute sich hilflos um. Warum kam sie nicht? Sollte er sich  ausrufen lassen? Allein gelassener Mann bitte vorm Cafe Bodemann  abholen?  Was machte sie nur so  lange mit ihrer Freundin Uschi? Immerhin waren drei Stunden vergangen,  da müßte auch das Schuhhaus Schlüter längst seine Schuhe weggeräumt  haben.  
                Natürlich konnte er weggehen und Hilfe holen, aber er wußte genau, sobald  er  nur einen Schritt in irgendeine Richtung machen würde, käme sie  plötzlich um die Ecke und würde sagen: „Noch nicht mal vier Stunden  warten kannst du auf mich.“ Er mußte durchhalten. Inzwischen wurde der  Markt abgebaut. Müllfahrzeuge der städtischen Reinigung spritzten  ihn mit ihren Wasserwagen naß. Es wurde dunkel. Die Laternen gingen an  und beleuchteten den glänzenden Marktplatz. Ein leichter Regen setzte  ein. Zum Glück gab es Hoffnung. Vor der Fleischerei im Schildern stand  auch ein Mann, der nicht wußte, wo er hingehörte. Vor dem Brillenladen  stand ebenfalls ein Leidensgenosse und fragte sich, ob er eine Brille  brauchen würde. Auch vor der Anwaltskanzlei war ein Mann vergessen  worden und winkte ihm zu. Er winkte zurück und gab nicht auf. Noch  wartete er. Für alles gab es eine Erklärung. Sie würde irgendwann die  Äpfel vermissen. Später war dann seine Tochter gekommen und hatte ihn  nach Hause gebracht. Seine Frau hatte sie geschickt. Sie hatte sich  angeblich mit Uschi verquatscht.  
                „Sollen es wieder vier Äpfel sein?“ Er schreckte aus seinen Gedanken.  Frau  Rodenbröker  stand vor ihm und hielt ihm vier Äpfel entgegen. Er nickte. „Sind die  aus dem Alten Land?“ Natürlich kamen sie daher. Der alte Mann ging los.  Er fror. Nun mußte er nach Hause. Plötzlich fiel ihm sein Hund ein. Er  war noch immer bei Rodenbrökers am Gurkenstand angeleint. Langsam  trottete er zurück. Zum Glück kommt in Paderborn nichts weg.    
            © 2015 Erwin Grosche 
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