Deep Dish

Chris Haring inszeniert am Tanzhaus NRW ein grandioses tönendes Stilleben

von Andreas Rehnolt

Foto © Tanzhaus NRW

Weißkohl, Austernpilze, Urzeitkrebse
 
Im Düsseldorfer Tanzhaus NRW zelebrierte Choreograf Chris Haring
als deutsche Erstaufführung mit „Deep Dish“
tänzerisch und filmisch ein grandioses tönendes Stilleben
 
 
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak - Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring - Komposition, Sounddesign: Andreas Berger - Dramaturgie, Szenografie, Lichtdesign: Thomas Jelinek - Organische Skulpturen, künstlerische Beratung: Michel Blazy - Stage Management: Roman Harrer - Internationale Repräsentation: Line Rousseau, A PROPIC - Produktionsleitung: Marlies Pucher.
 
Düsseldorf - Die deutsche Erstaufführung des Stücks „Deep Dish“ des österreichischen Choreografen Chris Haring jüngst im Tanzhaus NRW in Düsseldorf geriet zu einem grandiosen Tanz um und mit Obst und Gemüse. Es begann damit, daß drei Tänzerinnen und ein Tänzer gemeinsam den Tisch in der Mitte der Bühne decken. Sie tragen Gläser, Flaschen mit Wein und Wasser, die unterschiedlichsten rohen Obst- und Gemüsesorten und größere mit Wasser gefüllte Gefäße auf. Begleitet wird dieser „Schöpfungsakt“ des Stillebens vom steten Geräusch von der Decke tropfenden Wassers in ein Glas. Fast sphärisch muten diese Klänge an.
Eine kleine Handkamera zoomt sodann an schlanken Möhren und deren Grün entlang und wirft die Bilder auf eine riesige im Hintergrund befindliche Leinwand. Die Kamera verweilt kurz auf einer dicken Fenchelknolle um dann an den Austernpilzen empor zu klettern, die wie eine gigantische Felswand erscheinen. Die nach außen gestülpten Weißkohlblätter muten fast erotisch an, wie sie mit der roten Paprika eine Liaison eingehen. Unmittelbar darauf nehmen drei junge Frauen am Tisch ihre Plätze ein. Da wird mit zuckenden Köpfen in knackige Selleriestangen und verführerisch rote Äpfel gebissen, lautstark mit kreisenden Kopfbewegungen Rotwein geschlürft.
 
Die Völlerei beginnt. Und damit auch die langsame Zerstörung dieses wunderbar appetitlichen Stillebens, das sich mit all seinen Köstlichkeiten im Verlauf der knapp 70minütigen Choreografie als Sinnbild der Vergänglichkeit erweisen wird. Schnell beginnen die drei Tänzerinnen zu zucken, sie stehen auf und taumeln um den Tisch. Eine beginnt leise: „Die Österreicher nehmen es sehr streng mit der Lebensmittelkontrolle“. „Die Gurke muß genau 23 Zentimeter lang sein. Alles, was den Normen nicht entspricht muß draußen bleiben und verdirbt an der Grenze. Aber kleinere Gurken kann man schwarz kaufen“, ergänzt sie lächelnd.
All das Geschehen auf und um den Tisch wird auch auf der Leinwand sichtbar, denn abwechselnd führen die vier Protagonisten die Handkamera. Da umrundet sie monströs erscheinende Erdbeeren oder helle Trauben. Verweilt für mehrere Momente vor einem mit Wasser gefüllten Glas, in dem sich Urzeitkrebse tummeln. Zwei Tänzerinnen füttern sich gegenseitig in getanzter Umschlingung, während eine dritte mit einem großen Messer eine saftig-rote Tomate zerstückelt, um sie anschließend mit den Händen zu zermatschen. Ein bißchen denkt man als Zuschauer an so großartige Filme wie „Das große Fressen“ oder „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“.


Foto © Tanzhaus NRW
 
Sakrale Musik ertönt, während die Tänzerinnen sich nun unter dem Tisch befinden und grüngelb angestrahlt wie Untote in die Kamera schauen, sich gegenseitig Fetzen von zerschnittenen Gemüsestücken in den Mund schieben. Dann wieder befinden sich alle auf dem Tisch, zwischen dem Gemüse, daß nun schon nicht mehr ganz so appetitlich daher kommt. Die Kamera dreht sich um 360 Grad und läßt die Tänzerinnen fliegen, die sich auf dem Tisch drehen und winden. Apfelsinen werden mit den Händen ausgequetscht und wie in Trance auf die Körper gestrichen. Eine der Tänzerinnen wird mit Möhrengrün gekrönt, der Tänzer bekommt einen Granatapfelkern zwischen beide Augenbrauen auf die Stirn gedrückt.
 
Und wieder fährt die Kamera am verbliebenen Obst und Gemüse entlang. Schluchten von Chinakohl, picklige Melonen, zerbrochene Granatäpfel, die wie ein Ausschnitt aus einem Schlachtgemälde wirken und Fadenwürmer in einer Blumenvase, die zu sakralen Klängen zu tanzen scheinen. Eine ungeschälte Apfelsine dreht sich im Wasserglas und wird mit dem Licht der Handkamera angestrahlt. Das nächtliche Abendmahl scheint langsam zu enden. Die Apfelsine wird zur Morgensonne. Alle vier Protagonisten befinden sich inzwischen wieder auf dem Tisch und vernichten sich dazwischen windend das restliche Obst und Gemüse.
In Arm- und Kniebeugen werden Möhren gebrochen und Granatäpfel ausgepresst. Bananen werden zerquetscht und Trauben zu Saft zermatscht. Die nackten Beine und Füße wirken erotisch, orgiastisch lüstern, beinahe schon ein wenig kribbelnd pornographisch. Schließlich erscheinen auf der Leinwand Bilder von verwelktem Gemüse, verschimmeltem Obst. Zum Finale haucht eine der Tänzerinnen Zigarettenrauch in ein größeres mit Wasser gefülltes Glasgefäß, gibt zerschnittene Petersilie und winzige Teile von Brokkoli in das Glas und läßt mit der Hand einen Wasserwirbel entstehen. Traumhaft diese immer langsamer werdende Drehung des Gemüses im weiß-trüben Wasser, während die Tänzerinnen nach und nach langsam, mit drehenden Körperbewegungen mit dem Abräumen des Tisches beginnen.


Foto © Tanzhaus NRW
 
Der Applaus gilt einer wunderbaren Choreografie, tollen Protagonisten und einer Film-Tanz-Idee die beim Rezensenten die Erkenntnis hinterläßt, daß auch ein ausschließlich aus Obst und Gemüse bestehendes Mahl durchaus orgiastisch verlaufen kann. „Deep Dish“ war Ende Dezember in Österreich mit großem Erfolg uraufgeführt worden und ist der dritte Teil seiner gefeierten „Perfekt Garden“-Serie.
 
 
Redaktion: Frank Becker