Der unaufhaltsame Abstieg eines Gentleman

Evelyn Waugh - „Eine Handvoll Staub“

von Frank Becker

Der unaufhaltsame Abstieg eines Gentleman
 
Diogenes setzt mit seiner Reihe von Wiederveröffentlichungen der Romane Evelyn Waughs dem Autor (1903-1966) ein Denkmal. Ein neuer vortrefflicher Baustein dazu ist „Eine Handvoll Staub“ (A Handful of Dust). Waugh erzählt darin die Geschichte des Landedelmanns Tony Last, Besitzer des Familienanwesens Hetton Abbey, auf dem er glücklich und mit seinem über dem Mittelmaß liegenden gehobenen Standard zufrieden mit Frau Brenda und Sohn John Andrew lebt. Das Haus trägt sich, man kann sich die Bediensten in Haus, Küche, Stall und Garten leisten, Gäste kommen gerne hinaus aufs Land, gelegentlich gibt es eine Jagd und ab und zu fährt man zum Einkaufen und zu eleganten Vergnügungen nach London. Das Glück scheint perfekt.
Das Blatt wendet sich mit dem Auftauchen des Parvenüs John Beaver, dem Brenda zur allgemeinen Verwunderung verfällt. Sie behauptet, ein Studium in London aufzunehmen, legt sich unter fadenscheinigen Gründen ein Appartement zu, betrügt Tony, hält Beaver aus und ist kaum noch bei Mann und Sohn. Als John Andrew in ihrer Abwesenheit bei einem Ausritt tödlich verunglückt, zerbricht die nur noch zum Schein aufrecht erhaltene Idylle endgültig. Brenda verläßt Tony, will die Scheidung, verklagt ihn auf einen nicht zu leistenden Unterhalt, was das Ende von Hetton Abbey bedeuten würde. Erst jetzt bäumt sich Tony auf und trifft auf lange Sicht angelegte Entscheidungen.
 
Um Abstand zu gewinnen und sich selbst wiederzufinden, begibt er sich auf eine weite, sehr weite Reise. Er schließt sich dem Pseudo-Wissenschaftler Dr. Messinger zu einer Expedition in die unendlichen Wälder des Amazonas-Regenwaldes an, die sein Schicksal werden wird – „ins Herz der Finsternis“, wie der deutsche Klappentext es treffend formuliert, denn Parallelen zu Joseph Conrad sind nicht zu übersehen. So sehr der Leser ein versöhnliches Ende herbeisehnt, Waugh weiß es ihm in vielen raffinierten und abenteuerlichen Wendungen konsequent zu versagen. Die dabei karikierten Charaktere hat Waugh mit scharfen Konturen nach dem englischen Land-, Club- und Gesellschaftsleben der 1920er Jahre gezeichnet. Brillant beherrscht er den Szenenwechsel vom Landgut zum Überseedampfer und von dort mit karibischen Streiflichtern in die Tiefen des brasilianischen Dschungels.
 
Evelyn Waughs Roman ist eine grimmige Abrechnung mit der selbstherrlichen englischen Society, ihren Dünkeln, ihrer Hohlheit und ihrer in Jahrhunderten gewachsenen Skrupellosigkeit, in der eine Figur wie Tony Last in anachronistischer Ehrhaftigkeit ein Relikt des Gediegenen ist. Von pociao vor allem in den delikaten Dialogen genußbringend ins Deutsche übertragen ist „Eine Handvoll Staub“ die eher bittere Bilanz einer von außen wie durch eigene gesellschaftliche Schablonen zerstörten Existenz. Waughs beißende Satire weicht hinter das packende Drama zurück. Lesestoff, den Sie nicht aus der Hand legen werden.
 
Evelyn Waugh - „Eine Handvoll Staub“
Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von pociao.

2014 Diogenes Verlag, Zürich, 344 Seiten, Ganzleinen, mit Schutzumschlag - ISBN-13: 978-3-257-06913-6
22,90 €
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch