„Kunstimporte” aus den USA (3)

Shel Silverstein

von Joachim Klinger

Shel Silverstein - © Joachim Klinger

„Kunstimporte” aus den USA (3)
 
Shel Silverstein (2)
 

Was tun Kinder nicht alles? Sie betrachten „den Verkehrt-rum-Mann” in der Pfütze („Betrachtung” S.29). Sie rasieren sich den Schädel kahl und wundern sich, daß der Kopf gewellt ist („Gewelltes Haar” S.40). Sie haben einen „Hot Dog” als Haustier („Heisser Hund” S.77) und streuen sich Pfeffer ins Haar – zur Gefahrenabwehr („Hauptsache: Reichlich Pfeffer”, S.92).
Willy z.B. sieht gern Werbespots im Fernsehen und bestellt sich dies und das, auch neue Eltern, denn die alten nerven („Willy” S.168/169). Ein anderer berichtet ausführlich über seine Entführung („Entführt!” S.174) Schlußzeile:
 „Und deshalb komm’ ich zu spät in die Schule!”
 
Im Buch treffen wir auf Monster (S.23), den „Drachen vom Domersteiß” (S.33), „Andreas Andersrum” (S.42/43 mit hinreißender Zeichnung!), „Herrn Dingsbums und Herrn Sowieso” (S.44/45), „das Werich mit dem Wasgenau” (S.80/81), das Walroß mit der Zahnspange („Vom Gestell entstellt” S.113), den Degenschlucker Salomar („Der Schwertschlucker” S.138), den drehbaren Mann (S.150), dem mordlüsternen Jack („Spannung” S.176) und viele andere bizarre Geschöpfe und Gestalten. Kinder werden rasch mit ihnen vertraut sein, Erwachsene müssen Annäherungsschwierigkeiten zu überwinden suchen, evtl. mit Hilfe von Psychotherapeuten.
 
Die Brücke, die einen nur halbwegs hinbringt (vgl. S.186/187), ist etwas für Abenteurer, also mutige Kinder. „Den schnellverdauenden Gink” sollten Erwachsene meiden („Das ging aber fix” S.126 bis 129), Kinder werden besser mit ihm fertig. „Das fliegende Nilpferd” (S.98/99) darf für Kinder und Erwachsene gleichermaßen als harmloses Anschauungsobjekt dienen. Eltern, die nicht sofort und bedingungslos auf die Wünsche ihrer Kleinen einzugehen bereit sind, empfehle ich dringend die Lektüre des Gedichts „Gaby und das wunderschöne Pony” (S.131-133). Das wird ihnen bitteres Leid ersparen …
Nachdem ich Gedichte wie Speisen auf einer Menu-Karte präsentiert habe, bin ich dem Leser und Buchliebhaber einige Kostproben schuldig.
Da ist beispielsweise der Mann, der nach der Polizei ruft, weil man ihm die Knie gestohlen hat „Haltet den Dieb!” S.13), und der resigniert feststellt, während der Dieb flieht:
 
„Ihm nachzurennen wäre jetzt
Auf jeden Fall das Richtigste,
Jedoch ich habe den Verdacht,
Mir fehlt dazu das Wichtigste.”
 
Beim Bad in der Wanne ist es zweckmäßig, die Zahl der zu waschenden Kinder zu begrenzen und ihre Aktivitäten maßvoll zu steuern. Sonst kann folgendes passieren:
 
„ … Grad wusch ich einen Hintern gar,
Der ganz bestimmt nicht meiner war.
Es sind zu viele Kinder in dieser Wanne.”
 
Warum geht man ins Hallenbad? Seite 159:
 
„Hinein ins Vergnügen
Es ist so schön im Hallenbad,
Weil es dort keine Quallen hat.”
 
Und noch etwas Hübsches, das man sich leicht merken kann (Seite 165):
 
„Der Kater ist weg
 
Verschollen ist der Kater Franz
Nicht nur zur Hälfte, sondern ganz.
Wo ist er bloß, wo ist er nur?
Vom Kater Franz fehlt jede Spur.
Vielleicht weiß es der Hut mit Schwanz.”
 
Die zupackende Sprache Harry Rowohlts verschafft ungeteiltes Vergnügen. Beispielsweise:
 
„Wievielmal kann eine alte Fliegendraht-Tür ‘Peng’!
machen und heil bleiben?
Das ist eine Frage von Knall plus dein Alter, mal vier …”
(Zitat aus dem Gedicht „Wie viel und wie viele” S.8).
Oder:
 
„Geburtstagsparty ist vorbei,
Bißchen schlafen wär’ jetzt nett.
Geschenketechnisch Drängelei
Schaff’s einfach nicht bis ran ans Bett.”
(Zitat aus dem Gedicht „Geschenke, Geschenke, Geschenke” S.194).
 
Und noch ein Beispiel:
 
„Vierunddreißig Hechter mit Schraube und Flip,
Vierfach rückwärts gedreht. Einfach superhip!
Und dann den Salto, neuneinviertel Mal,
Dann der Blick ins Becken: Leer! Ratzekahl!”
(Aus „Toller Köpper” S.30/31).
 
Erwachsene, die aus Schüchternheit oder wegen anderer psychischer Hemmungen das Buch nur zögernd in die Hand nehmen, sollten die Seite 137 aufschlagen und mit dem Gedicht „Zebra-Fragen” beginnen. Dort geht es um bewegende Fragen:
 
„Ich fragte das Zebra:
Bist du schwarz mit weißen Streifen?
Oder weiß mit schwarzen Streifen?” …
 
Wer im Blick auf kleine Kinder die Beschäftigung eines Babysitters erwägt, dem ist anzuraten, die Seiten 14 und 15 zu betrachten. Die dort dargestellte Mrs. Twitter hat wohl kaum das rechte Rollenverständnis:
 
„Denn sie glaubt, ein Babysitter soll
Sitzen, und zwar auf dem Kind.”
 
Mit dieser Position mag sich die Dame zwar der Anwesenheit des Zöglings versichern, aber auf Dauer gesehen werden weder das Kind noch die Eltern freudiges Einverständnis signalisieren.
Ein herrliches Buch, das insbesondere in den Haushalt der jungen Familie gehört, aber mit seinen lustigen Zeichnungen auch das Herz eines „alten  Knackers” erwärmen kann!
Drei amerikanischen Künstlern verdanken wir versnobten Europäer Großes, Schönes, Beglückendes. Sie sind verstorben: Silverstein 1999, Gorey 2000 und Sendak 2012. Aber viele ihrer Werke sind quicklebendig und können noch Generationen erfreuen.
 
 
Berlin, Oktober 2014                                                                                                                                                   
Joachim Klinger
 
Die deutsche Ausgabe von „The giving tree” ist unter dem Titel „Der Baum, der sich nicht lumpen ließ” beim Kein & Aber Verlag erschienen, übersetzt von Harry Rowohlt.