„Kunstimporte” aus den USA (2)

Shel Silverstein

von Joachim Klinger

Shel Silverstein - © Joachim Klinger
„Kunstimporte” aus den USA
 
Shel Silverstein
 
 
An dieser Stelle sollte auch an Tomi Ungerer (Jahrgang 1931) erinnert werden, der so etwas ist wie „ein Reisender zwischen den Welten”. Als junger Mann ging er von Straßburg nach New York und entwickelte sich in den USA zu einem grandiosen Zeichner und Erzähler (ein Erfolgsschlager seine The Mellops-Bücher!). Über Kanada und Irland, wo er sich als Landwirt im Nebenberuf angesiedelt hatte, kehrte er schließlich in die elsässische Heimat zurück. Kinder lieben seine Bücher, die grafisch gekonnt und mit großflächigen farbigen Bildern versehen, packende Geschichten erzählen. Man denke etwa an „das Biest des Monsieur Racine”, „Papa Schnapp” und „Die drei Räuber”.
 
Aber hier geht es um „amerikanische Kunstimporte”, und ich möchte näher eingehen auf einen amerikanischen Künstler, den ich als Dritten neben Edward Gorey and Maurice Sendak stellen will.
 
Es handelt sich um Shel Silverstein (Jahrgang 1930).
Wie Gorey wurde er in Chicago geboren, und wie bei Sendak stammt seine Familie aus dem osteuropäischen Raum. Es gibt eine Biographie von Lisa Rogak über diesen Künstler „A boy named Shel – the life and times of Shel Silverstein”, 2009 bei St. Martin’s Griffin in New York erschienen. Ein Satz des umfangreichen Umschlagtextes ist besonders aussagekräftig und treffend:
„Few authors are as beloved as Shel Silverstein.”
Das gilt gewiß für die USA und darüber hinaus für den englischsprachigen Raum. Im „alten” Europa erkenne ich insofern einen Nachholbedarf.
 
Zwar erinnere ich mich daran, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Cartoons von Shel Silverstein begegnet zu sein. Da waren z.B. „die Bankräuber”, die im Zuge langwieriger Tatvorbereitungen vom Alterungsprozeß überholt wurden. Oder an den Autor komischer Kurzgeschichten, der jahrelang erfolglos einen Redakteur oder Lektor zu überzeugen sucht. Schließlich zündet der Witz, aber die Lachsalve hat eine tödliche Wirkung … Diese hinfällig schlurfenden Greise mit schlenkernden Gliedern und wackelnden Köpfen hat niemand besser gezeichnet als Shel Silverstein. Seiner Biographie ist zu entnehmen, daß er schon in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum ständigen Mitarbeiter beim „Playboy” avancierte.
 
Und auf ein Buch von Shel Silverstein stieß ich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts: „Der freigebige Baum” („The giving tree”) – wahrscheinlich bei Diogenes verlegt -, das ich meinen Kindern vorlas und das sie in ihr Herz schlossen. Es geht um die innige Freundschaft zwischen einem Baum und einem Jungen. Wer als Kind die Möglichkeiten des Kletterns, des Schaukelns, des Spielens im Baumschatten erkundet hat, der begreift sofort, wie sich eine enge Beziehung herausbilden kann. Seinem herangewachsenen Freund opfert der Baum das Holz seines Stammes und seiner Zweige – eine Gabe selbstloser Liebe, und der junge Mann zieht in die Welt. Aber eines Tages kehrt er doch zurück, als alter einsamer Mensch, der sich auf dem Baumstumpf ausruht und die Beziehung zu seinem Freund wieder aufnimmt. Ein anrührendes Buch, das in den USA im Bereich der Literatur für Kinder und Jugendliche zum Bestseller wurde.
Meine Töchter bestanden darauf, daß ich einen „Schluß” schriebe. Eine Geschichte könne nicht damit aufhören, daß ein alter Mann auf einem Baumstumpf sitze. Ich fand, daß der Mann nur noch sterben könne. Die Leute, die um seine Beziehung zu dem Baum wußten, begruben ihn dicht bei dem Baumstumpf. Dazu zeichnete ich ein Bild, auf dem der alte Mann friedlich in den „Armen” des Baumes ruht. „Arme”, das sind die Baumwurzeln, die ihn liebevoll umfangen. Die Töchter waren zufrieden.
 
Die Biographie von Lisa Rogak enthält auf den Seiten 121 bis 123 eine Liste der Werke von Shel Silverstein. Ich habe 20 Bücher gezählt. Die Mitteilung, daß Silverstein „over one hundred one-act plays” geschrieben hat, überrascht – gelinde gesagt. Aber seine musikalische Produktion macht einfach sprachlos. Ich zitiere aus der Werkliste (S.222):
 
1962   Inside Folk Songs
1965   I’m so good that I don’t have to brag!
1967   Drain my brain
usw. usw.
 
Zahlreiche seiner Songs wurden durch andere Künstler Hits. Auch Filmmusik steuerte Silverstein bei, z.B. zu „Ned Kelly” (1970) und „Who is Harry Kellerman” (1971). Als Instrumentalist soll er Gitarre, Klavier, Saxophon und Posaune beherrscht haben.
Wer Songs schreibt, der dichtet auch. Und in der Tat hat Silverstein Gedichtbände publiziert. Besonders beliebt sind in den USA die Kindergedicht-Bilderbücher „Where the Sidewalk Ends”, „A Light in the Attic” and „Falling Up”. Zu meiner Freude hat der Verlag Kein & Aber in Zürich 2010 die Gedichtsammlung „A Light in the Attic” unter dem deutschen Titel „Ein Licht unterm Dach” in der deutschen Übertragung durch Harry Rowohlt herausgebracht.
Das kleine blaue Buch umfaßt 208 Seiten, ist hübsch behäbig und liegt angenehm in der Hand. Noch wichtiger: es entzückt durch seinen Inhalt. Ich kenne die Texte im Original nicht, aber bei Harry Rowohlt kann man sicher sein, daß er die adäquate Form gefunden hat.
 
Dichter schreiben auch gern für Kinder, man denke z.B. an Joachim Ringelnatz. Sie verstehen es, auf kindliche Wünsche und Phantasien einzugehen. Der so früh verstorbene Jürgen Spohn (1934-1992) hat die Kinder nicht nur mit einer größeren Zahl schöner Bilderbücher beglückt (z.B. „Der Spielbaum”, „Eledi & Krokofant” und „Das Riesenroß” – 1961 bis 1968), er hat auch „Verse zum Vorsagen, Nachsagen, Weitersagen” veröffentlicht („Drunter & Drüber”, Goldmann Verlag 1986), die bei vielen Kindern helle Begeisterung ausgelöst haben. Hier zwei Beispiele (Drunter & Drüber” S.5 und S.95):
 
Ich nicht
 
Am Kuchenteller
war ein Dieb
Wo ist das Stück
das übrig blieb?
 
Ich war’s nicht
sagt das Känguruh
und hält sich
seinen Beutel zu.
 
 
Wann
 
Fragt und fragt
die kleine Kuh:
Wann bin ich auch
so groß wie du?
 
Ich will dir
eine Antwort geben:
Kälbchen
ist man
nur ein Jahr
Kuh
fürs ganze Leben
 
„Das Schnepfen-Köfferchen” (1987 im Goldmann Verlag erschienen) setzt die Reihe dieser „Spaß-Poesie” fort mit 56 „Schnurrpfeifereien”, die zahlreiche Wortspiele und skurile Einfälle enthalten. Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß Erwachsene noch mehr Gefallen daran finden als Kinder. Beispiel („Das Schnepfenköfferchen” S.42):
 
Zwei
 
Zwei Einzelgänger
(nicht mehr jung)
Die priesen
die Vereinzelung
Verein – Verein -
Vereinzelung
Und so in etwa
mit der Zeit
da waren sie
vereinzelt zwar
doch immerhin –
zu zweit.
 
In seinen Dichtungen erweist sich Shel Silverstein als „Kindskopf” im besten Sinne des Wortes. Er denkt, fühlt und spricht wie ein Kind. Da ist nichts spürbar von angemaßtem Kindsein. Shel Silverstein singt und spielt, summt und brummt, grinst und zwinkert, lacht und tobt. Welcher Erwachsene kommt schon auf die Idee, abends seine Haut abzulegen und den Kopf abzuschrauben? (S.161 „Haut geklaut”). Wer bestellt ein „gegrilltes Gesicht”? (Seite 122). Wer macht sich ein „Mondfange-Netz”? (S.9). Wer erfindet ein „Senf-Eis”? (S.190).
 

Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 3 von Joachim Klingers Essay.
Redaktion: Frank Becker