Sensibel

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz
Sensibel

Meine Frau sagt auch immer
Ich wäre so sensibel
Nein sie sagt
Ich wäre zu sensibel
Also ich weiß es nicht
Ich bin schon so wie sagt man
So wetterfühlig
Das schon
Schließlich hat der Mensch
Ja Knochen und Gelenke
Und wenn der Knorpel im Eimer ist
Dann ist aber Lukas der Erste
Das kann ich Ihnen sagen
Ich meine damit kann man leben
Aber sensibel
Ja sicher
Ich meine
Ich rette immer so Tiere
So Bienen aus dem Swimmig-Pool
Mit einem große Aschenbecher
Oder ich bringe Käfer über die Straße
Oder hole Fliegen aus dem Bierglas
Die trocknen sich dann die Flügel in der Sonne
Also ich setze sie da hinein
Und dann fliegen sie weg
Gott ja aber sensibel
Ich verfolge halt so Geschichten
Wenn unsereiner ein Tier wäre
Und käme dann in so eine Notlage
Sagen wir mal
Man würde von so einem großen Dampfer fallen
Dreißig Kilometer vor der Küste
Da wäre unsereiner ja auch froh wenn
Dann jemand käme
Und würde einen an Land ziehen
Is nicht so
Is doch so
Da braucht man gar nicht sensibel zu sein
Da muß man nur gut schwimmen können
Und Ausdauer haben
Ausdauer sage ich immer ist das Allerwichtigste
Ausdauer und eben auch Angst vor der Schöpfung
Oder Ehrfurcht sagt man da glaube ich besser
Dann kann man von Frankreich nach England
Schwimmen
Aber die haben ja jetzt einen Tunnel
Also nix mehr mit sensibel
Im Urlaub da soll ich wahnsinnig sensibel sein
Meine Frau sagt dann immer
Beim Spazierengehen:
Der Hund ist gepflegt und hat ein Halsband!
Weil da immer so furchtbar viele Hunde
Rumlaufen
Und ich sehe dann in jedem Hund einen
Ausgesetzten

Oder wenn ein Kind im gegenüberliegenden
Hotel weint
Denk ich sofort
Die Eltern haben sich auf und davon gemacht
Und wahrscheinlich gehört der Hund
Den ich seit drei Tagen allein herumstreunen sehe
Auch noch zu dieser Familie
Ich höre aber eine Frauenstimme
Sagt dann meine Frau
Das wird die Mutter sein
Also gut sag ich dann
Dann ist ja alles wieder in Ordnung
Und der Hund gehört sicher ganz woanders hin
Er hat ein Halsband!
Sagt meine Frau dann wieder
Das sagt mir gar nix
Sag ich dann
Das haben sie ihm gelassen als letzten Gruß
Oder so
Und er ist gepflegt und sieht auch nicht
Unterernährt aus
Sagt meine Frau dann wieder
Sei doch nicht so sensibel
Er hat ein Zuhause!
Ja aber wo???
Vielleicht in Kanada oder in China
Und sie haben ihn mit nach Italien gebracht
Und hier wird er dann allein gelassen
Gelinde gesagt
Deine Phantasie möchte ich haben
Sagt dann meine Frau
Wir leben davon
Sag ich dann
Gott sei Dank sehen wir dann am vierten Tag
Den Hund
Mit Frauchen und Herrchen und zwei Kindern
Auf der Viale Verdi spazieren
Zufrieden? fragt dann meine Frau ganz knapp
Knapper geht's nicht
Zufrieden?
Ja schon sage ich
Aber er könnte mich ja auch mal angucken
Wo ich mir so viele Sorgen um ihn gemacht habe
 
 
 
 
© Chris Rasche-Hüsch/ Verlag Kiepenheuer & Witsch
Veröffentlichung aus "Der Große Hüsch, Bd. 2" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnungen stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.
 Redaktion: Frank Becker