Von Matera bis Maratea
Matera Ende September 2014. Der Wettbewerb um die „Ernennung” zur Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2019 ist überall erkennbar. Da flattern Fahnen und Transparente mit der Jahreszahl 2019 und einem Symbol, das ein blattähnliches Gebilde darstellt. Die schöne Piazza Sedile am Konservatorium ist ebenso wirksam gegen den Autoverkehr abgesperrt wie der Bereich um den Palazzo Lanfranchi und das Museum Ridola. Geschäftstüchtige Gastwirte haben behende die Initiative ergriffen, und Tische und Stühle mit hellen Sonnenschirmen aufgestellt. Eine Einladung an erschöpfte Touristen, die in immer größerer Zahl durch die Straßen der Stadt drängen, Ausschau halten und in die SASSI hinabsteigen, um Wohnhöhlen und Grottenkirchen zu besichtigen.
Die Müllabfuhr funktioniert. An jeder Ecke stehen runde Metallbehälter zur Aufnahme leerer Flaschen und Plastikverpackungen. Die Straßen und Steintreppen sind sauber. Die große Straße, die von der höhergelegenen Stadt kommend an den SASSI entlangführt und SASSI BARISANO und SASSO CAVEOSO miteinander verbindet, wird halbstündig von einem kleinen Linienbus befahren – eine Erleichterung für müde und alte Menschen.
Allerdings, diese berühmte Straße mit dem Namen „Via Madonna delle Virtù” ist zeitweise gesperrt. Grund: Filmarbeiten! Als ich am 23. September morgens beim Frühstück sitze, kommen auf der Via Fiorentini Scharen von Komparsen vorbei: römische Soldaten, Bauern, Händler, Kaftanträger. Wieder einmal geht es um das Leben Jesu Christi. Seit dem epochalen Buch des jüdischen Arztes und Künstlers Carlo Levi „Christo si è fermato a Eboli” (Christus kam nur bis Eboli), den die Faschisten in die Verbannung nach Aliano in den unwirtschaftlichen Süden Italiens geschickt hatten, ein ergiebiges, wohl unerschöpfliches Film-Thema. Matera ist die geeignete Kulisse für Ortschaften des Heiligen Landes. Besonders dekorativ auch das verfallene Dorf Craco, das die Bewohner nach Erdbeben und Steinsturz vor ca. 30 Jahren verlassen mußten. Man glaubt sich leicht in eine Zeit vor 2000 Jahren versetzt.
Matera gibt sich gern als Filmstadt und hat im Palazzo Lanfranchi, der im übrigen mittelalterliche Kunst zeigt und große Teile des malerischen Werks von Carlo Levi beherbergt, Platz für eine umfangreiche Pasolini-Ausstellung geschaffen. Im wesentlichen für Filme des berühmten Künstlers, aber auch Fernseh-Dokumentationen, Fotos und Beiträge von Zeitzeugen.
Mein Freund Aldo hat mir wieder eine Reihe von Büchern vorgelegt, die mich in Ruhezeiten beschäftigen sollen. Darunter „La Lucania a piedi”
Seit den Aufzeichnungen Theodor Fontanes weiß man, daß die Beschreibungen von Wanderungen Landschaften und ihre Geschichte dem Leser höchst lebendig nahebringen können. Die kulturelle Prägung wird vermittelt, die Bewohner gewinnen an Profil. Das Buch von Nicola D’Imperio atmet die Frische des Aufbruchs am frühen Morgen.
Er beschränkt sich nicht auf die Chronik der acht Tagesmärsche mit den vielfältigen Eindrücken, die eine vielgestaltige Landschaft bietet. Eingestreut in den Bericht sind immer auch kurze Erzählungen, Gedichte und Erinnerungsbilder. So wird des Lyrikers Leonardo Sinisgalli ebenso gedacht wie des Malers / Schriftstellers Carlo Levi – beide haben hier ihre Spuren hinterlassen. Gedichte von Michele Adamo – sowohl in der gängingen Mundart als auch in italienscher Übersetzung – machen atmosphärisch spürbar, was den Geist dieser Landschaft ausmacht.
In „La Lucania a piedi” bestechen eine gerade zu vornehme Zurückhaltung der Illustration und ihre schöne Eindringlichkeit. Auch wer die italienische Sprache nicht beherrscht, wird seine Freude an den klaren und in ihrer Sicht so konzentrierten Fotos haben. Da begegnen uns seltsam fremde, archaisch wirkende Hügellandschaften, die mit kaum erkennbarem Gras- und Kräuterwuchs Schafherden ernähren. Da tauchen bizarr geformte Felsen auf, die auf ferne Berge hinzuweisen scheinen. Dann wieder sanfte Hügelketten mit lieblichen grünen Tälern, Dörfer, die sich an Bergrücken klammern, ein See im Frühnebel mit altem Baumbestand am Ufer. Und immer wieder Olivenbäume, scheinbar aus Urzeiten und doch längst nicht so alt, wie ihre greise, rindenrissige Gestalt uns glauben machen will.
Nicola d’Imperio hat sie meisterhaft gemalt, und eines seiner Bilder hat zum Glück Eingang in das Buch gefunden. Ach ja, von Pisticci aus hat man einen wunderbaren Ausblick bis ans Mare Ionio, und am Lago di Gannano möchte man eine Stunde und länger rasten …. Und schließlich Maratea am Tirrenischen Meer erreichen … Dieses Buch weckt Sehnsüchte. Gibt es ein schöneres Lob?
Redaktion: Frank Becker
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