Wenn er das gewußt hätte

von Hanns Dieter Hüsch

Wenn er das gewußt hätte
Daß das Leben so abwechslungsreich ist
Daß das Ende dem Anfang nicht gleich ist
Wenn er das gewußt hätte
Wäre er lieber ein Berg geworden
lm hohen, im kalten Norden.
Läge er lieber als Sphinx im Sand
Wäre er lieber ein Baum, um den man herumgehen muß
Wäre er lieber ein transkaukasischer Fluß.
Säße er lieber in Dörfern, die leer und stumm,
Läge er lieber als Wolke, die vor dem Golfstrom flieht
Uber ganz milden Hügeln, die man von oben nicht sieht
Wenn er das gewußt hätte.

Geburt und Geschrei
Schlange und Apfel im Schöpfungsei.
Kriechtier und Kräuter
Mensch sei doch heiter.
Kruste und Kind
Schnapslabyrinth.
Heilung und Hoffnung
Wüstenwind.

Strömung und Strampeln
Nach Wurzeln aus Alpha und Gamma und Pi
Fragt sich nur wie.
Wenn er das gewußt hätte
Wäre er lieber ein Draht dessen Ende
Man selbst in der Post von Damaskus nicht fände
Ein Fallschirm der aufgeht und doch niemals landet
Als Regenbogen in den Gärten von Kairo versandet.
Wenn er das gewußt hätte.

Urschlamm und Brei
Seuchen und Sieger
Kroppzeug und Krieger
Elefanten und Ziegen und Kirschen für Rom
Kreuzzug und Krüppel und christlicher Dom.
Insekten und Sumpf
Eiweiß und Philosophie
Aufklärungsstrategie.
Menschen und Mäuler gestopft mit Hunger und Haß
Ab damit Gras drüber Zukunft macht Spaß.

Wenn er das gewußt hätte
Ginge er lieber am äußersten Horizont
Als Kreuzworträtsel mit lieblichem Ausgang
Bewaffnet mit einer rustikalen Harmonika
Wäre er lieber ein Mikroskop geworden
Durch das man nichts sieht
Wäre der heilge Grand Canon sein Bruder.

Aber: Sklaven an die Galeerenruder
Illusionen und Standgerichte
Das ist die ganze Geschichte.
Menschenverbren nung mit Metaphysik
Schuß ins Genick
Dazwischen Revolutionsmusik
Kybernetik und Kunst
Lungen voll blauem Dunst
Blümchen pflücken
Für Veteranen an Krücken
Treffen und Trunk
Neandertaler mit Einschußloch
Aber schön war es doch.

Wenn er das gewußt hätte
Wäre er lieber ein Berg geworden
lm hohen, im Kalten Norden
Läge er unbeweglich im Eise
Sähe des Menschen vergebliche Reise
Säh seinen alten verzweifelten Blick'
Sähe sein Finden Verlieren und Suchen
Sein Aufwärts sein Abwärts sein Vor und Zurück
Immer im Kreise mit Sprüchen und Fahnen
Auf unsren Schultern die Weisheit der Ahnen
ln unsren Gliedern die Krankheit der Kinder.
Vor uns marschieren die Zukunftserfinder
Und teilen die Zwischenergebnisse mit-

Immer im Kreise mit gläubigem Schritt.
Computer und Botschaft von andren Planeten
Wir werden gebeten zu beten und treten
Mensch komm nach Hause und ruhe dich aus
Es sitzt schon der Abend auf deinem Haus.


Hanns Dieter Hüsch
1971


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung