Selbst-Übersetzungen

Krzysztof Juretko: Überzeichnungen II

von Andreas Steffens

© Krysztof Juretko

Andreas Steffens
Selbst-Übersetzungen
 
Rede zur Eröffnung der Ausstellung: Krzysztof Juretko: Überzeichnungen II
Deutsches Werkzeug-Museum, Remscheid 22.03.2014
 
Anläßlich der Finissage am 27.4.2014
 
 
Ähnlich sein sollte ein Portrait schon; unähnlich sind wir uns selber.
(Albrecht Fabri, Hommage à Rolf Sackenheim

 
Wer sich zeigt, gibt sich preis. Einmal erblickt, gehört man nicht mehr sich selbst. Bevor ein Mensch selbst zu sehen beginnt, ist er schon lange gesehen worden. Die Blicke, die uns erfaßten, kaum, daß unser Leben begann, haben uns den herrischen Zufällen überantwortet, die es bestimmen werden. Die Blicke der anderen haben uns in die Gemeinschaft aufgenommen, und ihr überantwortet.
„Wie siehst du denn wieder aus?!“ Die frühen Ermahnungen des erzieherischen Blicks prägen uns zu dem, was wir sein sollen, lange, bevor wir auch nur daran denken können, etwas, jemand sein zu wollen. Die Blicke der anderen verpflichten uns. Vom Kreißsaal bis zum Totenbett. Sie zwingen uns, denen, mit denen wir leben, ein Bild von uns zu bieten, eine Sichtbarkeit unseres Daseins, in dem sich bestätigend spiegelt, was zu sein von uns erwartet wird. Zeige das Gesicht dessen, der du sein sollst, und du bleibst aufgenommen – und dahinter kannst du darangehen, zu werden, der du sein willst. Aber wähle deine Maske gut. Für die anderen ist sie, was du bist. Unser Sein mit den anderen – und ein anderes gibt es nicht – ist unser Erscheinen in ihren Augen.  
Also nehmen wir Haltung an, setzen die Maske auf, wann immer es ein Bild von uns geben soll.
Das ganz eigenartige Unbehagen, das den ergreift, der portraitiert wird, beruht auf dieser Nötigung, die eingeübt wurde, lange, bevor wir uns als diesen einen, bestimmten Menschen, der wir sind, selbst erfahren. Der seinem Portraitisten gegenüber Sitzende erfährt mit Bewußtsein, was er in seiner noch unbewußten Lebensfrühzeit einübte.
Die Eitelkeit hilft, diese Entfremdung zu ertragen.  Die Entfremdung, zu sich als Bild in Distanz zu geraten, in der Situation, in der ein Bild entstehen soll, das einen als den zeigen wird, der man für einen anderen ist. Für den, der es macht. Als Form gewordene Wahrnehmung durch einen anderen. Für all die, die es betrachten werden.
Jedes Portrait ist eine individuelle Objektivation des Blicks der anderen. Jenes Blicks, den jene Maske unseres Selbst spiegeln muß, um das Gemeinschaftswesen bleiben zu können, als das wir nur existieren können. Das Portrait ist eine Falle.
Warum habe ich dann nur kurz gezögert, mich dieser identifizierenden Verfremdung auszusetzen? Das Vertrauen muß es bewirkt haben, die bildende Hand des Freundes würde mich meiner Maske nicht ganz berauben. Vielleicht aber empfand ich es auch als gerechte Gegengabe. Denn was waren die vielen Überlegungen, die Sprachäußerungen, die ich der Arbeit so vieler Künstler gewidmet habe, denn anderes als gesprochene, geschriebene Portraits, Transpositionen anderen Seins in die Wahrnehmungen und Bezüge des eigenen? In Sprache übersetzte Blicke, die ich auf sie richtete?
Zu zeigen, ins Bild seiner Wahrnehmung zu bannen, wer und was sich da äußert, wenn ich an meinem Schreib-Werk bin, das genau war

© Krysztof Juretko
Krzysztof Juretkos Motivation, als er sich entschloss, sein Projekt situativer Portraits es an mir erprobend fortzusetzen, das er mit dem Maler Enric Rabasseda begonnen hatte, an mir, der ich mich über seine Arbeit so oft schon äußerte.
Auch das Ergebnis dieses Einsatzes vorzustellen, wollte er mir nicht erlassen. Wer könnte sich weniger äußern über seine bildnerischen Äußerungen über mich, als ich? Aber wen gingen sie mehr an? Wen überhaupt könnten sie etwas angehen?
Wenn ich denke, nein, das geht nicht, wenn die kommen, die mich gekannt haben, und die mich sogar noch kennen, vom Sehen natürlich, oder am Geruch, wenn ich daran denke, ist es, als ob, was denn, ich weiß nicht, ich weiß nicht mehr, ich hätte nicht beginnen sollen. So fühlte ich mich angesichts der Bitte, wie diese Stimme des Unerzählers aus einem der „Texte um Nichts“ von Samuel Beckett, und fand mich zugleich von ihr ermutigt: Wenn ich wieder begönne und dabei achtgäbe, es führt manchmal zu guten Ergebnissen, man muß es versuchen, ich werde es versuchen, an einem der nächsten Tage, einem der nächsten Abende oder heute. Heute also.
Schwierig ist das Verhältnis der Künstler zu ihren Kritikern, und ein Glücksfall, wenn es sich freundschaftlich gestaltet, ohne sich in Gefälligkeiten aufzulösen.  Kritik scheint mir nur Gewicht zu haben, wenn sie selbst zum Kunstwerk wird, war Rolf Sackenheim überzeugt, einer der wenigen Großen der abstrakten Zeichnung. Vor allem aber müßte dieser kritische Kopf Stilist sein – ebenbürtig den Autoren. Er müsste Standpunkte beziehen, die vor ihm noch keiner bezog, Blickpunkte eröffnen, von denen man vorher noch nicht Gesehenes sieht – kurz, seinerseits Künstler sein. Diesen Kritiker als Künstler, der zu sein ich mich bemühe, setzte der Portraitist Juretko seinen Blicken aus. Und fügte dem, was sie seine Hand aufs Papier setzen ließen, hinzu, was als Motiv und Inspiration die Versuche seines Kritikers bestimmt. Mehr noch als Portraits der Person, brachte seine Zeichenkunst so ein serielles Portrait der Methode hervor, die mich in meinen Versuchen zu einer kritischen Kunst leitet. Sichtbar wird in diesem neuen Werkkomplex ein Ausschnitt aus dem Fond der Artikulationen meiner Wahrnehmungen an der Kunst, als abschließender Bestandteil der Wahrnehmung meiner Person bei der Arbeit.
So schnell wie die Blicke hin zur ansichtigen Person, so schnell gehen sie her, und zurück und wieder her zum Zeichenkarton, auf den die schwingende Hand in unmittelbarer Resonanz des visuellen Eindrucks, der sekundenweise wechselt, mit Kohlestück und Bleistift die Striche setzt, deren Verdichtung zeigen wird, nicht, was der Zeichner sah, sondern wie der Gesehene in ihm erschien, als der Rhythmus der Blicke den der zeichnenden Hand skandierte. Als Virtuose des situativen Graphismus’ sucht dieser Zeichner seinesgleichen.
Wer mich kennt, wird mich darin erkennen; mich sehen wird er nicht. Stattdessen, die innere Wahrnehmung der gesehenen Person, wie die zirkulierenden Blicke des Zeichners auf sie sie in diesem erzeugte. Der Tanz der Blicke, wechselnd sekundenbruchteillang zwischen Ansicht und Zeichenblatt, führt die Hand darüber, mit jedem Strich eine Choreografie des Fluidums zwischen zwei Personen in der Intimität ihrer gleichzeitigen Arbeit erzeugend. Seitdem gleiten meine Finger schneller und rhythmisch akzentuierter über die Tastatur, mit der ich schreibe, wenn die Gedanken, die die Hand zuerst zu Papier brachte, zu geformter Sprache werden soll. Die Hand ist und bleibt das wichtigste Werkzeug des Gedankens wie seiner Formung, sei es als Sprache, sei es als Zeichen.
Und dann – das einsame Handwerk danach im Atelier: die Setzung der Zeichnungen über die Zeichnungen. Sie erst lassen ganz entstehen,

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was als Portrait wahrnehmbar sein wird. Die Menschen darstellen! Was heißt das? Man müsste das Innerste malen, aber das sieht man nicht. Wir können nur das Äußere beobachten, lautet eine Notiz in Jules Renards Tagebüchern. Juretkos Situationsgraphismus löst dieses entmutigende Problem in der virtuosen Anverwandlung altmeisterlicher Wahrnehmung: durch die Setzung von Bezüglichkeiten über die Gestalten der wahrgenommenen Person, Bezüglichkeiten der Geschichte der Kunst und des Denkens, die diese Person in ihrem eigenen Werk-Einsatz charakterisieren, zu dessen eigenem Handwerk, es bildend, die Kunst des Zitats gehört, das die eigenen Wahrnehmungen einpasst ins Beziehungsgefüge der Bedeutungen unserer Geistesgeschichte.
Sogar so heißen sollen, hätte ich, und bin auch ohne die Bürde dieses Namens ein Hieronymus geworden, formend an den Übersetzungen der Lebenserfahrungen in eine Sprache der denkenden Lebens-selbst-ermöglichung. Zwar mit keinem Löwen zu Füßen, doch immerhin einer Katze, als Erinnerung an früheste Spiritualität. Auch ein Hieronymus in seinem Gehäus ist ein Adam, der nichts wäre ohne Eva, hier vergegenwärtigt in einer anonymen Skulptur der Magdalena im romanischen Burgund, der ewig verleumdeten Urfigur aller weiblichen Barmherzigkeiten, ohne die kein Mann sein Leben aushielte, aus jener einzigen Kathedrale, die das Versprechen des Evangeliums allen Sinnen erfahrbar macht; vergegenwärtigt auch von van Eyck, mit dessen Genter Altar und seiner ‚Madonna des Kanzlers Rolin’ die Neuzeit beginnt, deren Hoffnungen und Verzweiflungen unverändert die unseren sind, ermutigt und verloren von jenem Burgund, das untergehen mußte wie vor ihm das Languedoque mit Aquitanien, weil es dabei war, noch einmal eine Alternative zum lebensfremden christlichen Abendland zu schaffen, das uns schließlich zu Dürers Melancholie verurteilte, gegen die lebenslang anzukämpfen hat, wer sich damit herumschlägt, zu denken, was aus dessen Trümmern an Humanität zu retten noch sein mag. Zu retten aus den alles vernichtenden Tiefen der Geschichte, aus denen Holbeins Sir Morette seinen Betrachter im Dresdener Zwinger mit noch nach fünfhundert Jahren lebendigem Blick ansieht, ihn gebieterisch dazu bestimmend, in dessen Erwiderung zu bekräftigen, nicht umsonst gelebt zu haben.
Ich bin’s, und bin’s nicht. Und bin’s doch ganz genau. Wir sind das, was von dem, das uns mitgegeben wurde, und dem, was wir aufnahmen, in uns wirkt, und sich als Tätigkeit nach außen wendet. Jedes der Blätter ist für sich ein Portrait. In der Zusammenschau fügen sie sich zu einer Präsentation: zur Visualisierung dessen, dessen Wirkung in dieser Person sie zu dem macht, als die sie selbst sich äußert, indem sie sich bemüht, zu sein, was sie ist.
In einem seiner Vorträge zur Ästhetik sagt Roman Ingarden, der – für unsere Generation gerade noch legendäre – polnische Philosoph: Das Kunstwerk ist ein Werkzeug (sic!), das dem Zweck dient, in der Begegnung mit dem ästhetisch Erfahrenden den ästhetischen Gegenstand (…) zur anschaulichen Selbstgegebenheit zu bringen. Genau dies ist hier geschehen. Die Bilder dessen, der mich er-blickte, geben mir - und denen, die das interessieren mag, - Ansichten meines ‚Selbst’. Und versetzen damit das, was in mir am Werk ist, in ihrer Technik der Überblendung in jene Kontinuität, die Valéry Larbaud bezeichnete, als er feststellte, daß alle Künstler, die Hieronymus seit der Renaissance so zahlreich darstellten, nicht den heiligen Einsiedler zeigten, sondern den Schriftsteller, der er war. Im Spiel der Übersetzungen werden wir erst ganz, was wir sind, indem wir arbeiten.
So hat dieser Portraitist, der sich selbst mit der Wiederentdeckung der klassischen Zeichenkunst in diese Tradition einreihte, mich sichtbar gemacht. Das ist etwas sehr Seltenes, und etwas Kostbares.
Der ‚neue’ Juretko, den darin finden mag, wer seine Arbeit seit langem kennt, ist einer, der damit einen weiteren, konsequenten Schritt hin zu sich selbst getan hat. Umwege bringen ans Ziel. Zu diesem war es eine Reise nach Wien. Die Wiederbegegnung mit den alten Meistern der Handzeichnung in der Albertina brachte nicht nur pralle Skizzenbücher voll fiebernd-klarer Begeisterung hervor, sie belebte auch die Erinnerungen an die strengen Studien während früher Italienreisen neu, und das Konzept der Überzeichnung entstand, in dem die eigene Gegenwärtigkeit sich mit dem Erbe ästhetischer Meisterschaft der wahrnehmenden Zeichenhand verbindet, zuerst erprobt an frühen Bravourstücken einer abstrakten Erfassung der Körperbewegungen der Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters.
Es ist der Abstand vom Eigenen, der einen schließlich zu sich bringt. Hier in der Bewegung einer Doppelkehre: indem er mich sichtbar macht, tritt der Zeichner selbst hervor.
 

© Krysztof Juretko
 
Literatur
Beckett, Samuel, Texte um Nichts, in: ders., Erzählungen und Texte um Nichts (1950), Ffm 1962
Fabri, Albrecht, Hommage à Rolf Sackenheim in Form von 70 Aphorismen, Apercus und einigem anderen mehr, in: Rolf Sackenheim, Galerie Art 204, Düsseldorf  1991, 7-11
Ingarden, Roman, Prinzipien einer erkenntniskritischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung (1960), in: ders., Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967, Tübingen 1969, 19-27
Larbaud, Valéry, Sankt Hieronymus. Schutzpatron der Übersetzer, deutsch von Annette Kolb, München 1956
Renard, Jules, Ideen, in Tinte getaucht. Aus dem Tagebuch, München 1986
Sackenheim, Rolf, Zwischen Schwarz und Weiß. Ansprache zur Immatrikulationsfeier am 24.11.1965, Staatliche Kunstakademie Düsseldorf 1966
Steffens, Andreas, Figuren der Unruhe. Krzysztof Juretkos Tanztheater-Zeichnungen, in: Krzysztof Juretko, Zeichnungen zum Wuppertaler Tanztheater, Wuppertal 1998
Steffens, Andreas, Handgriffe der Empathie. Krzysztof Juretko zeichnet Enric Rabasseda, Rede zur Eröffnung der Ausstellung: Krzysztof Juretko: Innere Bewegtheit. Zeichnung und Film, BKG-Studio, Wuppertal, 18.11.2012
 
 
 
© 2014 by Andreas Steffens