Streuselkuchen

von Erwin Grosche

Foto © gänseblümchen / pixelio.de

Streuselkuchen
 
Natürlich wollen alle Streuselkuchen essen, aber nur wenige machen sich die Mühe ihn zu verstehen. Er ist ja als Beerdigungskuchen verschrien. Dabei wird er nur bei diesem sensiblen Ereignis eingesetzt, weil er es schafft, alle Stimmungen an einem solchen Tag unter einen Hut zu bringen. Er ist im besten Sinne mehrheitstauglich. Streuselkuchen geht immer. Ich mag an ihm besonders, daß er legal zu erwerben ist. Alle Lebensabschnitte des Menschen finden sich in seinem Genuß wieder. Natürlich hat er in aller Frische die meisten Fans auf seiner Seite. Sein unbekümmertes Äußeres läßt selbst die größten Streusel liebenswert erscheinen. Ein frischer Streuselkuchen ist eine große Versuchung. Ihn zu verschmähen erscheint unmenschlich und müßte als Beleidigung geahndet werden. Unschuld ist unwiderstehlich. Man verzeiht ihm in diesem Stadium alles, sogar Ignoranz. Das Spiel kann beginnen. Genießen sie ihn heimlich, um nicht die Stimmung durch einen Anflug von Gier zu zerstören. Lächeln ist erlaubt, stopfen nicht. Der Streuselkuchen wird schon am zweiten Tag seine Stacheln ausfahren. Er will sich ausprobieren, seine Grenzen entdecken. Er lockt, er preist sich an, ohne zu wissen, daß wir das Bescheidene mögen. Wenn wir verführt werden wollten, hätten wir eine Sahnetorte gekauft. Die Zeit der Schonung ist vorbei. Das, was zufällig anders und uneben war, wird nun als Style kultiviert. Plötzlich will er Ähnlichkeit haben mit der Oberfläche des Mondes. Nun nützt ihm kein süßes Aussehen mehr, nun muß er geschmacklich überzeugen. Zeigen sie ihm, daß er schmeckt, aber bleiben sie auf dem Teppich. Der dritte Tag zeigt den Streuselkuchen von seiner gestandenen Seite. Er ist bereit Verantwortung zu tragen. Er kann nachgeben. Er ist geläutert. Nun haben vernünftige Genießer einen vernünftigen Kuchen vor sich. Man weiß, was man voneinander erwarten kann. Da ist Verlaß, wie unter Ehepartnern, die sich nach dreißig Jahren blind vertrauen und sich nicht anschauen müssen, um sich schön zu finden. So darf man alt werden. Am vierten Tag im Leben eines Streuselkuchen erzählt er von der Wahrheit. Da lenkt nichts mehr ab von seinem Genuß. Da rührt er mit seinen Streuseln, die wie Sommersprossen auf ihm thronen. Ein Gesicht voller Falten kann viele Geschichten erzählen. Da überlegt man sich jeden Bissen. Ein jugendlicher Charme wurde ersetzt durch Weisheit, vielleicht durch Güte. Die Erinnerung steigert das Begehren. Der Kuchen ist hart, aber ist es das Leben nicht auch? Man könnte den Kuchen zur Not in Kaffee eintunken. Man kann ihn auch in kleine Stücke schneiden und schlucken wie eine Hostie. Kleine Hilfsmittel sind erlaubt, um trotzdem noch genießen zu können. In allen vier Lebensabschnitten schüttet der Streuselkuchen sein Herz aus. Er ist der König unter den Kuchensorten. Seine Symbolik erschüttert und zeigt vor allen Dingen eins: Der Mensch ist wunderbar. Zu allen Zeiten seines irdischen Daseins weiß er zu gefallen. Man darf nur nicht aufhören zu genießen. Man muß geben und nehmen. Genießen können und selbst auch Genuß sein. So hat auch der kleine Streuselkuchen Sinn.
 
 
 
© 2014 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker