Das größte Buch der Welt

Eine Nachricht aus "Die Niederrheinische Heimat"

vom 12. Februar 1925
Das größte Buch der Welt

Kürzlich wurde ein Koran für das größte Buch der Welt erklärt, aber noch größer
als dieses Riesenwerk ist ein Buch, das aller Welt sichtbar aufgestellt ist und
doch nur von wenigen beachtet wird. Dieses Buch, das zweifellos das größte der
Welt ist, befindet sich nach einer Mitteilung im "Allgemeinen Anzeiger für
Buchbindereien" in Wien, und zwar in der Dominikaner-Kirche, wo es hinter dem
Hochaltar an der Wand befestigt ist. Wer ahnungslos vorüber geht, denkt, daß es
ein alter Schrank sei, an dem nichts besonderes zu bemerken ist. In Wirklichkeit
ist es ein Buch, dessen Blätter aber aus ganz dünnen, eingerahmten Holztafeln
bestehen, die auf beiden Seiten mit Pergament überzogen sind. Die Blätter haben
eine Höhe von vier Fuß und eine Breite von drei Fuß; sie sind am Buchrücken durch
eigenartige Angeln befestigt, die sich beim Umblättern wie Türen hin- und herbewegen
lassen. Der Inhalt dieses einzigartigen Buches bietet für den Historiker großes
Interesse. Auf diesen Riesenblättern wurden die verstorbenen Väter und Brüder des
Dominikaner-Klosters seit dem Jahre 1424 aufgezeichnet. Dem Namen des verstor-
benen Mönches sind immer biographische Aufzeichnungen beigefügt, die für die
Kirchen- und Gelehrtengeschichte hohen Wert besitzen, denn es fanden sich berühmte
und weise Männer unter den Wiener Dominikanern. Gleich einer der ersten, der in
diese Totenliste eingetragen wurde, ist Franziskus de Retza, der von der Wiener
Universität die Doktorwürde erhalten hat. Hunderte und Aberhunderte von Namen
sind hier eingetragen, aber das Totenbuch hat noch viele leere Blätter. Auf dem ersten
Blatte steht der Spruch des hl. Augustinus: "Der Tod derjenigen erscheint glückselig,
deren Leben lobenswert war."