In der Bahnhofshalle steht ein Huhn

Christian Morgenstern - „Galgenlieder“ - Zum 100. Todestag des Dichters illustriert von Gerhard Glück

von Frank Becker

Umschlag-Illustration: Gerhard Glück zu "Der Werwolf"
Ein Glücksfall
 
Christian Morgenstern (1872-1914) wird in diesen Tagen allenthalben zu Recht geehrt. Anlaß ist der 100. Todestag des einzigartigen Dichters am 31. März 2014. Sein nachgelassenes Werk gehört ebenso zum ewigen Kanon deutschsprachiger Dichtung und grotesker Lyrik wie zum philosophisch-anthroposophischen Kernschatz nicht nur der deutschen Kultur. Nicht, daß Morgenstern nicht permanent Beachtung erführe – seine Gedichte aus den „Galgenliedern“, aus „Palmström“, Palma Kunkel“ oder dem „Gingganz“ sind stets in aller Munde -, doch in einem Jahr, in dem auch dem ganzen Gegenteil der Philosophie des Philanthropen, dem 1. Weltkrieg nämlich, viel Aufmerksamkeit wird, ist Morgensterns Werk ein gesunder, optimistischer, friedfertiger Gegenpol.
Auch der Lappan Verlag nimmt sich des Datums an und hat in seiner Reihe Lappan Art eine ganz wundervolle Ausgabe der „Galgenlieder“ mit ganzseitigen farbigen Illustrationen von Gerhard Glück aufgelegt. Ein wörtlich zu nehmen echter Glücksfall. Wie Gerhard Glück an die einzigartigen Texte Christian Morgensterns herangegangen ist, zeigt vom Lattenzaun über das ästhetische Wiesel bis zum einsamen Schaukelstuhl, dem Huhn in der Bahnhofshalle und dem Zwölf-Elf tiefes Verständnis des Zeichners für die Botschaft des Dichters. Kongenial ist das richtige Wort dafür.
Wir haben drei Beispiele ausgewählt, um Ihnen exemplarisch die exzellente, weißgott nicht jedermann gegebene graphische Umsetzung Morgensternscher Galgenlieder vorzustellen. Wie Gerhard Glück die Verlorenheit des Huhns in der Bahnhofshalle („nicht für es gebaut“) anrührend vermittelt, wie er die Unantastbarkeit Emmas, die als freundliche Möwe für alle anderen ihrer Art steht liebenswert fühlbar macht, aber auch die tödlich Präzision des immerwährenden Zwölf-Elf vor dem Hintergrund des Galgenbergs in ein beeindruckendes Bild bannt ist einfach grandios. Gerhard Glück hat diesen Band damit weit aus dem Durchschnitt ähnlicher Veröffentlichungen gehoben. Dafür (für Morgenstern sowieso und permanent) unsere Auszeichnung: den Musenkuß.
 
Das Huhn
 
In der Bahnhofshalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her …
Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh´r?
wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut:
daß ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte, wo es „stört“!
 

    © Gerhard Glück


 

Möwenlied


Die Möwen sehen alles aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwe tot,
ich laß sie lieber leben -
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.

O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.
 
 







       © Gerhard Glück

Der Zwölf-Elf
 
Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
Da schlägt es Mitternacht im Land.
 
Es lauscht der Teich mit offnem Mund
Ganz leise heult der Schluchtenhund.
 
Die Dommel reckt sich auf im Rohr
Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.
 
Der Schneck horcht auf in seinem Haus
Desglelchen die Kartoffelmaus.
 
Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast
auf einem windgebrochnen Ast-
 
Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:
Das Mondschaf geht zum Hochgericht.
 
Die Galgenbrüder wehn im Wind.
Im fernen Dorfe schreit ein Kind.
 
Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund
als Neuvermählte auf den Mund.
 
Hingegen tief im finstern Wald
ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:
 
Dieweil ein später Wanderstrumpf
sich nicht verlief in Teich und Sumpf.
 
Der Rabe Ralf ruft schaurig: »Kra!
Das End ist da! Das End ist da!«
 
Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.
 

 
Christian Morgenstern - „Galgenlieder“
Mit 15 ganzseitigen farbigen Illustrationen von Gerhard Glück ausgestattet
© 2014 Lappan Verlag, 80 Seiten, gebunden – ISBN 978-3-8303-6348-7
15,- €
 
Weitere Informationen:  www.lappan.de