Kann ein Tag Heimat sein?

von Konrad Beikircher

© Große Kölner Karnevalsgesellschaft
Kann ein Tag Heimat sein?
 
Meine Heimat ist Südtirol, genauer: das Pustertal, genauer: Bruneck und eigentlich dort der Stegener Weg. Da bin ich aufgewachsen, ich höre noch das Knirschen des Strassenschotters, wenn ein Pferdefuhrwerk drüber fuhr, ich sehe noch die Linde vor mir, an der wir uns immer trafen, am Rain, einem kleinen Hang hinauf zu den Ställen vom Hotel Post, ich habe noch den schlammigen Geruch der Wiere in der Nase, eines Abzweigs der Rienz, der hinter dem Stegener Weg von der Öhler Säge kam und zur Mühle floß, um ein paar hundert Meter weiter wieder in die Rienz zu münden und ich weiß noch genau, wie die Mischung aus Maschinenöl und Sägemehl riecht und schmeckt, die wir an der Öhler Säge immer zusammenkratzten. Ich höre die Stimmen meiner Freunde, ich vermisse heute noch die trockene kalte Winterluft, die aus einem eisblauen Himmel fiel und einem die Haare verzuckerte, wenn man sie naß kämmte, was wir alle taten, ich rieche die „Kaaspappilan“ (Käsekekse, eigentlich Wegmalve, sie hieß so, weil sie nach Käsfüßen roch, wenn man sie zwischen den Fingern zerrieb) und schmecke die Milch vom Löwenzahn, wenn wir die Stengel aufschlitzten und daraus Halsketten oder Stirnbänder flochten. Das ist Heimat, meine Heimat. Daneben natürlich noch ein Gefühl „Bruneck“, zu dem der Blick auf den Haunold gehört und auf die Gletscher oberhalb des Ahrntals und vor allem der Blick auf den Sambock, einem Berg, der mir die Sicht auf die Welt versperrte, wo ich doch so gerne gewußt hätte, wie es dahinter aussieht. Heute noch kann ich diese Sehnsucht nachfühlen, die mich als Kind so oft gepackt hat, die Sehnsucht hinter den Sambock zu gehen, dorthin, wo keine Berge mehr meine Augen einsperren.
Dann bin ich ins Rheinland gekommen, vor 49 Jahren, und habe dort mein Zuhause gefunden: Menschen, mit denen ich gerne zusammen bin, den Rhein, den ich so liebe, weil es einfach toll ist, an so einem gewaltigen Strom leben zu können, das Siebengebirge, das ein sanftes Echo der Berge ist, ohne meinen Augen Halt zu gebieten. Und oft habe ich mich gefragt, was denn wohl für die Menschen hier im Reinland Heimat sein kann. Der Kölner Dom? Naja, ich sehe ihn gerne und die Rheinländer auch, aber Heimat? Der Rhein selbst? Sicherlich (um mal mit Franz Beckenbauer zu sprechen), aber kann ein Fluß Heimat sein? Das alles zusammen, dachte ich, wird es schon sein, aber dann muß doch das Heimatgefühl der Rheinländer ein eher diffuses, schwammiges sein, ein Brei aus all diesen Elementen und das kanns ja wohl auch nicht sein.
 
Dann kam der Februar 1998. Ich wurde zum Botschafter der Großen Kölner ernannt und durfte auf deren Wagen beim Rosenmontagszug mitfahren. Bis dahin hatte ich den Kölner Rosenmontagszug noch nie gesehen: ich lebe in Bonn, war mit den Kindern auf dem dortigen Zug, hatte immer schon Angst vor Massen, die unter Alkohol stehen und dachte, daß der Kölner Zug sowieso nur ein touristisches Kollektivbesäufnis ist, eine Massenhysterie, gesteuert von den Brauereien und der Musikindustrie. Man schaut sich den Aufmarsch der Wagen und der Fußtruppen an und weil man das eigentlich nicht wirklich aushält, gibt man sich die Kante und gut is. Und ich dachte, daß Karneval auch für die Kölner ein Spaß ist, einer, der sicher manchmal ausufert, aber ein Spaß, nix Ernstes und schon gar nix Wichtiges. Nun bin ich also auf dem Wagen, sortiere mit meinen Freunden von der Großen Kölner das Wurfmaterial und bekomme erste Instruktionen: vorher auf die Toilette gehen, nicht zuviel am Anfang werfen, weil es sonst nicht reicht, viel Wasser trinken und mit dem Kölsch zurückhaltend sein, der Zug dauert. Kurz nach sieben Uhr treffen wir uns im Excelsior, Frühstück, Aufstellen und dann geht es auch schon los. Ich denke die ganze Zeit, daß das alles ein bißchen viel Aufwand ist für eine kleine ‚Hetz’, wie wir am Stegener Weg gesagt hätten, und ob ich das wirklich wollte: hier auf dem Wagen stehen und gleich losfahren. Da fahren wir los und plötzlich ist es vier Uhr nachmittags. Ich habe sechs, sieben Stunden lang nur in leuchtende Augen geschaut, in Gesichter, die Freude ausstrahlen, kein Besoffener war dabei (zumindest sah ich keine), mir sind Herzen zugeflogen, eine unglaubliche Welle von Wärme, Zuneigung, ach was, Liebe begleitete mich auf dem ganzen Zug, das Gefühl, jetzt, nach 33 Jahren, dazu zu gehören, es war eine einzige Umarmung. Und mitten in diesem Gefühlssturm begriff ich plötzlich: das hier ist kein Event, keine Touri-Abzocke, kein Wegsaufen von einem ganzen Tag, das hier ist reines Gefühl und mehr noch: das hier ist Heimat. Eines der größten Mißverständnisse, wurde mir da klar, ist das, daß der Rheinländer am Rosenmontag nur sich selbst feiere. Tatsächlich ist es so, daß der Rheinländer am Rosenmontag seine Heimat feiert. Deshalb ist der Rosenmontag der höchste Feiertag. Er gibt Identität, er gibt Zusammengehörigkeit und Heimat. Karnevalssitzungen machen Spaß und im Sommer ist es wundervoll, am Rein zu sitzen. Nichts aber ist dem Rosenmontag vergleichbar. Seit ich das erlebt und verstanden habe, habe ich Respekt vor dem rheinischen Karneval und sehe ihn mit ganz anderen Augen. Sie auch?

Bald ist es wieder so weit – und ich freue mich darauf.
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 

© 2014 Konrad Beikircher für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker