Der Tag an dem mein Auto verschwand

von Karl Otto Mühl

Der Tag an dem mein Auto verschwand
 
Wir waren schon recht früh von unserem Ferienort im Bregenzer Wald abgefahren – mit letzten Blicken auf die beschneiten Gipfel -, denn wir wollten vor Abfahrt des Autoreisezuges noch in Lindau spazieren gehen und zu Mittag essen. Wir, das waren ein befreundetes Ehepaar, meine Frau und ich.
 
Es gibt Tage, da bin ich hellhöriger als zu anderen Zeiten. Von diesem Tage weiß ich noch, daß alles auf mich einzustürmen schien, die Berge, die Gipfel in zarten Grautönen und die weißen Wolken am duftigblauen Himmel, das Touristentreiben in den Straßen von Lindau; das Sprachlose schrie mich an, knospende Sträucher, zornig im Wind zuckende Äste, die besonnten und die schattigen barocken Häusergiebel, sie alle riefen mir zu, wie bewegt und wichtig dieser Tag war. Es schien ein besonderer Tag zu werden, ein Tag mit Aufbruchsstimmung.
 
Wir hatten uns im Strome der Hunderte von Touristen, von denen die Stadt überfallen worden war, durch die Straßen treiben lassen, einem politischen Wanderprediger zugehört, der gegen die Bombenpolitik der NATO gegenüber Jugoslawien protestierte, immer wieder an Schuhgeschäften und Uhrenläden warten müssen, den Haltepunkten der Damen, aber schließlich gingen wir in ein Restaurant am Marktplatz essen. Meine Frau und das Paar wollten vor Abfahrt immer noch Windowshoppen, und wir vereinbarten, daß wir uns in etwa anderthalb Stunden auf dem Parkplatz treffen würden, um dann zum Verladebahnhof zu fahren.
So hatte ich Gelegenheit, das zu tun, was ich mir am meisten wünschte, nämlich in der Mittagssonne einen Schoppen Rotwein zu trinken. Um einige Grade fröhlicher als vorher stand ich danach auf und machte einen Abschiedsspaziergang bis zur Spitze der Halbinsel, wo der Bahnhof liegt. Ich atmete die milde Luft ein, sah das bunte Besuchervolk mit und ohne Strohhüte an der Ufermauer stehen – alles ein Anblick wie Weißes Rössl mit Festmusik. Ich sah einige Autos davor parken, möglicherweise gehörten sie Hotelgästen aus den umliegenden Hotels oder es waren die Autos des Personals, auf jeden Fall würde man normalerweise hier nicht lange parken können. Dieser Eindruck war hauptsächlich daran schuld, daß sich die Dinge danach in einer bestimmten Richtung entwickelten.
 
Langsam ließ ich mich nun mit dem Menschenstrom auf der Hauptstraße aus der Stadt heraustreiben, ging über eine Holzbrücke und dann vielleicht noch hundert Meter bis zum Eingang eines der großen Parkplätze, wo unsere beiden Wagen stehen mußten. Als ich auf die Armee von bunten Autoblechdächern blickte, kam die Erinnerung an früheres langes Suchen nach Autos auf Riesenparkplätzen in mir hoch, vor allem erinnerte ich mich an den Bericht meines Freundes Markus, der einmal in der Seitenstraße einer nordfranzösischen Stadt, wahrscheinlich war es Douai, geparkt hatte.
Markus hatte damals einen Kriegskameraden besucht und wollte sich auf der Rückfahrt diese Stadt ansehen. Die Straße, in der er sein Auto parkte, hatte er sich nicht notiert, schließlich waren von hier aus ein Turm und anderes Markantes zu sehen, da waren Irrtümer ausgeschlossen.
Markus wanderte nicht sehr ausführlich herum, allein war es zu langweilig (obwohl er in Douai eine Reihe eindrucksvoller Gebäude gesehen haben muß). Auch die vielen kleineren Geschäfte fielen ihm auf, sie schienen ihm in Frankreich verbreiteter zu sein als bei uns, wo sie von den großen Handelsketten hinweggefegt werden. Das würde in Frankreich sicher auch zunehmend so gehen.
Unvermeidbar dachte er auch an die beiden Weltkriege, und wie doch trotz der Kämpfe in den meisten französischen Städten viele Häuser stehen geblieben waren, er dachte an Giftgas, Hitler, Wickelgamaschen, eine Szene aus einem alten Kriegsfilm, wo ein Soldat beim Essenfassen zum anderen sagte: „Wenn ich an morgen denke (wo sie aus der Ertappe heraus wieder in den Schützengraben mußten), wird mir ganz flau im Magen“. Flau im Magen, das war das Gefühl, das Menschen wie ich millionenfach gehabt hatten, weil sie wußten, daß sie am nächsten Tage wohin mußten, wo ihr Körper und damit sie selbst zerfetzt oder verstümmelt werden sollten.
Markus beruhigte sich damit, daß das alles ja vorbei war, und, wenn es vorbei war, war es auch fast wie ungeschehen. Es mußte auch nicht mehr geschehen, wenigstens nicht unbedingt.
 
Nach zwei Stunden Herumlaufen hatte Markus genug von der Stadt. Und wieder - warum mußte er nur immer an so etwas denken! - im Vorbeigehen an altem Gemäuer Gedanken an Gerichtsbarkeit, weinende jungen Mädchen, die sich an die Kirchenmauer drückten, Folter, Hexenverbrennung, Bischöfe und Fürsten, und schließlich, wenn Markus etwas Palaisartiges sah, Marcel Proust und seine Romane. Denn Markus war Germanist und Lehrer wie ich, allerdings war er Realschulrektor.
Er fand sein Auto nicht sofort wieder. Er fand es überhaupt nicht. Er lief durch sämtliche Seitenstraßen in der Nähe des viereckigen Platzes mit den Zeitungsläden, den er sich gemerkt hatte. Er lief über eine Stunde lang herum. Langsam bekam er Angst.
Er dachte die kuriosesten Sachen. Zunächst zweifelte er an sich selbst. Wenn einem das passierte, mußte man ein lebensuntüchtiger, unpraktischer und verschlafener Mensch sein, vielleicht sogar irgendwie pathologisch - es sei denn, das Auto wäre gestohlen worden. Aber das fürchtete Markus am wenigsten, denn sein Auto war zehn Jahre alt, wie er überhaupt immer nur sehr alte Autos gefahren hatte. Da seine Frau auch Lehrerin war und sie beide darum doch wahrhaftig nicht arm waren, müsse etwas Besonderes an Markus sein, dachten die Leute, die ihn wegen seines alten Autos bedauerten. Vielleicht kalkulierte Markus mit dieser Reaktion.
Markus dachte immer einen Zug weiter als wir anderen. Mich hatte es nie gestört, daß Markus klüger war als ich. Ich hatte mir immer gesagt, dies müsse überhaupt nichts bedeuten. Es gab schließlich viele Arten von Klugheit.
 
Markus wurde immer verzweifelter. Er entwickelte sich zurück ins magische Denken der Steinzeitmenschen. Er überlegte, ob er jetzt die richtigen Gefühle oder die Gedanken hatte, die man haben mußte, wenn man überraschend gerettet wurde, er versuchte sich beides vorzustellen, die richtigen Gedanken vorher und die Rettung daraufhin. Man mußte vielleicht mehr verzweifelt sein, dann erst wurde man gerettet? Oder man konnte sich vielleicht an den heiligen Antonius wenden, aber man durfte dabei nicht über seinen eigenen Aberglauben lächeln, aber wie sollte man das vermeiden, wenn man nicht vorher wußte, ob man lächeln würde?
Schließlich brachte Markus mit viel Kauderwelsch und Zeichensprache einen Taxifahrer dazu, mit ihm in der Stadt herumzufahren Straße um Straße, Gasse um Gasse, zu beiden Seiten Fußgänger, die sich ängstlich an die Mauern schmiegten. Sie fanden das Auto.
Markus erzählte mir dies alles. Es sei ein ekelhafter Tag gewesen, aber auch eine bleibende Erinnerung, und trotzdem nicht so eindringlich wie die Erinnerung an ein zweites Ereignis dieser Art.
 
Doch daran dachte ich im Augenblick nicht, als ich mich auf unserem Parkplatz orientierte. Es war der Parkplatz - oder zumindest einer von den möglichen dreien, auf denen wir in den vergangenen Jahren bei unserer Rückreise aus dem Skiurlaub vor dem Verladen des Autos geparkt hatten. Jeder, der mit dem Fahrzeug in Lindau war, kennt sie. Große, von Bäumen eingerahmte Plätze, das Seeufer schimmert hindurch. Man muß Parkkarten ziehen und bei der Abfahrt einlösen.
Die Plätze waren fast vollständig besetzt. Das Heer der ferienbepackten Autos stand aufgereiht, dazwischen krochen einige herum, die einen Parkplatz suchten. Es herrschte Frühlingstemperatur, aber in der Sonne war es sehr warm.
Ich war erstaunt, als ich nach längerem Umherirren merkte, daß ich mich geirrt hatte. Ich hatte diesen Parkplatz in Erinnerung, aber gerade hier fand ich unseren Wagen nicht. Es mußte also doch einer von diesen beiden anschließenden Parkplätzen sein.
Aber auch hier suchte ich vergebens. Es war so unglaublich und so unerklärlich, daß ich mehrmals über die Plätze ging, ab und zu einen bänglichen Blick auf die Uhr werfend. Die Abfahrtszeit des Autoreisezuges rückte näher.
Ich fragte Leute aus, die sich gerade an ihren Autos zu schaffen machten. Gab es noch andere Parkplätze und wo? Nun ja, da bergauf, einige hundert Meter weiter, da sei noch einer, oder weiter rechts und auch bergauf, da sei einer für Autos mit Wohnanhänger.
Ich mußte es versuchen. Marschierte eilig bergauf, fand es zu weit um wahrscheinlich zu sein, kehrte um, fragte noch mehr Leute, wurde immer ratloser.
Wie war das denn heute Morgen gewesen? Ich war eifrig plaudernd mit meinem Freund vom Parkplatz gegangen, die Frauen voraus, und da war ein Tor in der Stadtmauer. Aber das wäre doch dort, wo ich bereits gesucht hatte?
Mehrmals wurde mir auch der Parkplatz beim Bahnhof an der Seespitze genannt, aber da war ich ja vorher entlang spaziert, an diesem winzigen Platz vor dem putzigen kleinen Bahnhof. Da stand unser Wagen ganz bestimmt nicht.
Der Abfahrtszeitpunkt des Autoreisezuges rückte näher. Eine Menge Geld wäre verloren, wenn er ohne uns führe, eine anstrengende Fahrt durch die Nacht stünde uns bevor.
 
Eigentlich mußte es dieser Parkplatz sein. Wir waren schon zum dritten Mal in dieser Gegend in Urlaub, und jedesmal hatten wir doch hier geparkt, wenn wir bei der Rückreise vor Abfahrt des Auto-Reiserzuges in Lindau ankamen.
Ich mußte es trotzdem wieder auf den beiden direkt anschließenden Parkplätzen versuchen. Sie sahen fast genau so aus wie dieser hier, eine Verwechslung war leicht möglich. Aber alles Suchen nützte nichts, das Auto war weg, die Zeit rann mir aus den Händen, die Familie war auch nicht zu sehen.
Ich fragte einen Mann um Rat, der sich an seinem Geländewagen zu schaffen machte. Ein braungebranntes Männergesicht, gletscherhimmelblaue Augen, freundliche, warme Stimme, er wirkte wie ein ruhiger, sicherer Bergführer in gefährlichen Situationen. Er nahm ernstlich Anteil an meiner Notlage, verstand meine Situation, fragte mich nach Einzelheiten der Herfahrt aus. Der Bahnhofsparkplatz, konnte es der sein? Nein, sagte ich, da sei ich ja schon gewesen.
Dann müsse ich doch noch einmal ein Stück bergauf zu jenem Parkplatz gehen. Es sei die einzige verbleibende Möglichkeit.
Ich machte mich wieder auf den Weg Die Sonne brannte so heiß, wie es im Frühling nur möglich war, die Luft schien still zu stehen, unheimliche Stille war um mich. Ich war ein Molekül im Universum, dessen Größe gegen Null ging. In mir war eine Art Vernichtungsgefühl wie vielleicht bei einem Irren, der fühlt, daß er für alle ein Irrer ist oder wie bei einem Sterbenden, der in die Tiefe stürzt und plötzlich weiß, daß er alle zu wenig geliebt hat, die ihm nahestanden, und nun ist es für immer zu spät.
Es war ja nicht nur die quälende Rat- und Hilflosigkeit, die mich belastete, sondern auch der Gedanke an Kosten, Ärger, Mühen, die Ratlosigkeit und Angst meiner Frau, für die ich verschwunden war.
 
Ich dachte kurz an die Gefahrensituation, in der sich Markus einmal befunden hatte. Auch diese Geschichte hatte er mir erzählt. Wenn man sie weiter erzählen will, muß man zunächst einen anderen Namen wählen, und das habe ich hier natürlich getan, Markus heißt also in Wahrheit anders. Dann muß man dazu sagen, daß Markus zwar Realschulrektor ist und damit ein moralisches Vorbild sein müßte, daß er dieses Vorbild normalerweise auch war. Nur diesmal lag eben ein Sonderfall vor.
Die Mutter einer Schülerin hatte ihn zuhause aufgesucht, um mit ihm über Probleme mit ihrer Tochter – oder Probleme der Tochter mit der Schule, so genau weiß ich das nicht – zu sprechen. Ich weiß auch nicht, warum das Gespräch bei ihm zuhause stattfand. Wahrscheinlich war es ein eiliger Fall. Vielleicht hatte sie es auch gewollt. Weiter weiß ich nicht, warum Markus´ Frau an diesem Nachmittag nicht zuhause war, aber dafür gab es sicher eine Erklärung. Ich weiß auch nicht, wie jene Frau hieß, Markus wird es nie verraten. Sie war eben nur blond, schlank, leise und wirkte sehr ernsthaft und aufmerksam.
So etwas kann man sich leicht vorstellen. Auch die Situation kann ich mir vorstellen: Mann und Frau allein, Mann allerseits estimiert, passabel aussehend, gutmütige und doch männliche Gesichtszüge – aber zunächst und auch später geschah nichts Unziemliches in dieser Studierstube.
Und so blieb es auch während des halbstündigen Gesprächs. Nur draußen, an der Wohnungstüre, da war dieser Blick, nein, beider Blicke waren es, und wirklich nur die Blicke bei ruhigem, unbewegten Gesichtsausdruck, aber keinerlei Berührung oder sonstige Annäherung. Aber diese Blicke reichten, um Markus zu zwingen, sich vorzubeugen und die blonde Frau leicht auf die Stirn zu küssen.
Nun gut, könnte man sagen. Das übliche, leichte Vorbeiwehen von Verliebtheit, das kennt jeder.
Aber es blieb nicht dabei. Am nächsten Tag kam ein Anruf. Kein Name, keine Begrüßung. Die leise Stimme sagte nur: „Ich möchte Sie wiedersehen.“
Das war kein Spaß mehr. Eine verheiratete Frau, ein Schuldirektor. Und Markus fühlte sich völlig unfähig zur Gegenwehr. Nur nachgeben wollte er, nichts als nachgeben. Das war Wirklichkeit, die sich wie ein eiserner Stachel in ihn bohrte.
 
Plötzlich hielt ein Auto neben mir, ein Geländewagen. Es war wieder der Mann mit dem Bergführergesicht. Er wolle mit mir die Parkplätze abfahren, sagte er freundlich, es müsse doch eine Erklärung geben. Während ich neben ihm daherschaukelte, empfand ich Dankbarkeit, und, an dieser Stelle will ich es zugeben, eine Vermutung auf übernatürliches Eingreifen. Wer anders als der heilige Antonius, den ich neben anderen Heiligen heimlich und gegen allen meinen Protestantismus für hilfsbereit und fähig hielt, konnte so etwas veranlassen oder saß sogar verkleidet neben mir? War dieses Lächeln neben mir nicht fast ein wenig heilig?
Mein Beschützer fragte mich aus. Er wollte wissen, was ich heute Morgen auf meinem Weg vom Auto gesehen hatte, wie lang der Weg gewesen war. Ich antwortete, es könnten nur ganz wenige Minuten gewesen sein, die Stadtmauer sei kurz nach dem Aussteigen aufgetaucht, ich erinnere mich nur an den großen Parkplatz, an Bäume und an die Stadtmauer mit Durchgang, die ganz kurz, wie gesagt, ganz kurz nach dem Aussteigen, aufgetaucht sei.
„Wir fahren sie alle ab“, sagte der Mann neben mir. Es gibt also gute Menschen, dachte ich.
 
Die beiden Verschwörer, Markus und die Frau, hatten ausgemacht, daß sie sich mit ihren beiden Autos am Stadtrand treffen und auf der A 61 zur nächsten Stadt fahren würden. Unterwegs sollte ihr Wagen auf einem Parkplatz warten und sie würde zu ihm einsteigen.
Sie fuhr hinter ihm her. Immer wieder spähte er über den Rückspiegel nach ihr, nach dem blonden Schimmer hinter der Frontscheibe. Auf der graunebeligen Autobahn kam eine Parkbucht, Markus blinkte rechtzeitig und sie bogen beide ein. Die Frau stellte ihren Wagen ab, und gemeinsam fuhren sie weiter. In der nächsten Stadt wollte Markus ein Manuskript für die Schultheatergruppe bei einem Kollegen abholen, ein wunderschönes Alibi, er konnte seiner Frau Ulrike sogar sagen, wo er gewesen war; er konnte sich selber sagen, daß er zunächst nur zu einer unabweisbaren Besorgung aufgebrochen war. Es konnte passieren, daß nichts passierte, zumal er sich keinerlei erregende Vorstellungen erlaubte. Er hielt dies leichtfertig schon für ausreichende Selbstbeherrschung.
Seit Jahren spürte er wieder einmal jene tiefe, aufwühlende, überwältigende Erregung, die viele ersehnen und fürchten. Markus und die Frau wechselten nur wenige Worte, er hatte mit heiserer Stimme gefragt, wie lange sie Zeit habe. „Mindestens drei Stunden“, hatte sie geantwortet.
Das Auto brummte über die Autobahn, die blonde Frau kauerte neben Markus.
Wunderbar gehe es ihm, sagte er zu seinem Kollegen, bei dem er das Manuskript abholte, wunderbar, nur, er sei ein wenig eilig, die angebotene Tasse Kaffe müßten sie später nachholen.
Beim kurzen Weg von diesem Haus zu dem Wagen um die Ecke hatte im umnebelten Hirn von Markus nur der Gedanke an diese Göttin der Liebe Platz, sie, die alle anderen Frauen übertraf, übertraf an Liebeskunst und Freiheit.
In der Parkbucht angekommen, brauchten sie erst einige Minuten, bis sie begriffen, daß der Wagen von Markus´ blonder Beifahrerin verschwunden war. Es durfte nicht wahr sein. Aber es war die Wirklichkeit.
„Himmel! Was sage ich meinem Mann?!“
Markus verfiel auf die einzige Möglichkeit. „Wir müssen auf jeden Fall zur Polizei.“
Sie verließen die Autobahn an der nahegelegenen Ausfahrt, kamen auf eine Landstraße, und sahen bei hereinbrechender Dunkelheit ein Stück Erftlandschaft vor sich, Gräben, Äcker, Wiesen, Hecken.
Aber schon nach etwa hundert Metern Weiterfahrt stießen sie auf einen Pulk von Autos. Beim Näherkommen sahen die beiden, daß es Polizeiautos waren. Zwei Polizisten mit rot leuchtenden Kellen hielten Autos an, um sie aus irgendwelchen Gründen zu überprüfen. Markus wandte sich an einen Polizisten im Streifenwagen und berichtete. Der Polizist rief über Funktelefon seine Dienststelle an.
„Ja. Die haben Ihren Wagen. Er wurde abgeschleppt. Sie hatten ihn in einer Nothaltebucht geparkt. Da darf man nicht parken.“ Der Wagen konnte noch am gleichen Abend bei einem Abschleppunternehmer abgeholt und ausgelöst werden. Ein Strafmandat sollte folgen.
Hoffentlich kann sie das beim Postboten abfangen, dachte Markus, als er die roten Rücklichter ihres Wagens im Dunkel verschwinden sah.
Sie war im Höllentempo losgefahren. Nur kurz beruhigt hatte sie ihn, er brauche sich nicht die geringste Sorge machen, sie bringe das in Ordnung, sie sei öfter unterwegs, und ihr Mann sei heute in Bonn und komme sicher spät nach Hause.
Auch Markus fuhr rasch nach Hause. Es gab keine Anrufe mehr, aber ein tiefes, lähmendes Versunkensein in die Lust der letzten Stunden begleitete ihn noch monatelang. Es war süß und machte depressiv. Manchmal, wenn er die Last von sich zu wälzen versuchte, sagte er sich, er sei eben einer besonders wilden Frau begegnet, darauf sei er nicht vorbereitet gewesen. Kein Mann wäre das. Denn nie, so sagte er sich, nie hätte er sonst seine Frau Ulrike, diese gute Seele mit dem herzensguten Sportlehrerinnengesicht, betrogen. Nie hätte er sich von der Sucht infizieren lassen, die er immer noch spürte, nie in Gefahr begeben, ein Leben wie der Herzog von Windsor führen zu müssen, immer lieben, immer zusammen glücklich sein. Entsetzlich. Und das nicht im Jet oder auf Empfängen, sondern im Reihenhaus mit Aquarium.
 
„Sagen Sie“, sagte der nette Kerl in Lindau neben mir, „sind Sie vielleicht über eine Brücke gefahren, als Sie heute Morgen zum Parkplatz fuhren, also hinwärts, was auch sonst?“
Ja, das sei ich. Über eine kleine Holzbrücke, meine ich. Dann sei es auch der Bahnhofsparkplatz, behauptete er. Unmöglich, widersprach ich. Der sei viel zu klein.
„Wir fahren trotzdem hin“, sagte er. Wir rumpelten über die Holzbrücke.
„Hier war es!“ schrie ich. „Hier ist ja ein richtiger großer Parkplatz. Und der sieht genau so aus wie die anderen, auf denen ich gesucht habe.“
Der sei wirklich so groß, erklärte er. Hier seien nicht drei, sondern vier ähnlich aussehende Parkplätze. Dieser hier sei genau so wie die anderen. Und er habe ihn Bahnhofsparkplatz genannt, weil er an den Bahnhof grenze, man nehme den Bahnhof nur nicht immer gleich wahr, es sei eben von hier doch ein kleines Stückchen Weg bis dahin, ein paar Dutzend Meter, Bäume stünden herum, aber egal, ich wäre endlich da.
Ein Stück weiter sah ich meine Frau und die Freunde herumirren. „Mein Gott“, rief ich, „da sind meine Leute! Ich bin Ihnen so verdammt dankbar! Das würde nicht jeder tun, was Sie getan haben.“
Auf dem Weg zu den Meinen suchte ich alle Erklärungen zusammen. Ich hatte am Morgen die Augen nicht richtig aufgemacht, die Bilder der Vorjahresparkplätze und des Weges dahin hatte sich in meine Vorstellungen geschoben, ich hatte mir nichts Besonderes auf diesem Parkplatz gemerkt, ich hatte unter Bahnhofsparkplatz eben immer nur den hübschen kleinen Vorplatz vor dem Bahnhofseingang vorgestellt...
 
 
© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Redaktion: Frank Becker