Tod und Glauben

von Karl Otto Mühl

Tod und Glauben
 
Vor einer Stunde erfuhr ich, daß Peter, vierundsechzig, tot in seiner Wohnung gefunden wurde.
Es heißt, er sei angekleidet gewesen, wollte vielleicht gerade fortgehen, aber er fiel um und war wahrscheinlich im Umfallen schon tot. So hatte man den Arzt verstanden. Also keine Schmerzen, kein Leiden.
Ein Heldenleben. War er ein Held? Vielleicht war er das nicht. Aber sicherlich ein Mensch, der starke Spuren im Schnee der Zeit hinterlassen hat.
Übrigens sind wohl die meisten Helden solche wider Willen. Aber schon jetzt, wenige Tage nach seinem Sterben, wird mir klar, daß er eine radikale Gegenexistenz zu unseren bürgerlichen Wunschvorstellungen, in denen uns Regionalzeitung und „Lokalzeit“ bestärken, gelebt hat.
Er war unfähig, in der Fürsorge für sich und eine Familie aufzugehen, seine Leidenschaft brauchte größere Ziele. Diese Ziele waren konkret und menschlich, und sie sind darum mit dem psychologischen Begriff vom „grandiosen Ich“ nicht zu diffamieren.
 
Unser Held war unauffällig gekleidet, er war, wie die meisten Helden, heiter, seine Freunde, ein buntes Volk, waren seine Familie. Sie fanden sich selten an Konferenztischen mit Wasserglas; eher schon mit einem Saxofon, einer Kindergartengruppe, als Sozialhilfeempfänger auf einer Parkbank, als mittellose Maler; als Sozialarbeiter. Die Wirtschaft einige Straßen weiter, das Glas Wein an der Theke seines türkischen Freundes, sie waren seine Heimat, aber auch gleichzeitig der Mastkorb, von dem aus er über Leben und Zeit blicken konnte, während ringsum Rauchschwaden und Gesprächs-Gemurmel aufstiegen.
Er war dabei, in den Ruhestand zu gehen und sein Lebenswerk, den Mittelpunkt für Behinderte und Nichtbehinderte, in andere Hände zu geben. Hier starb er. An diesem Punkt wird seine fast genau gezirkelte Biografie sichtbar, was ja selten geschieht.
Sichtbar wurde für mich auch wieder die Brüchigkeit und Scheinbarkeit unseres bürgerlichen Wohlbefindens, das andauernd nur einen Fingerbreit vom Erreichen entfernt scheint – aber da bleibt es auch.
 
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl