Aus dem Land der blauen Ameisen - Erster Teil

Ein Reisebericht über ein China, das es längst so nicht mehr gibt

von Frank Becker

Aus dem Land der blauen Ameisen
Teil 1

April 1985



Lieber Freund,


bereits seit drei Wochen zurück aus dem Lande der Chinesen finde ich erst jetzt Ruhe, Ihnen ein wenig von der Reise zu berichten. Beinahe zwei Wochen brauchte ich allein, um wieder in meinen hiesigen (ich sage nicht  „normalen“) Lebensrhythmus zu finden. Nach dem zweimaligen Überschreiten mehrerer Zeitgrenzen und dreimaligem Wetter- und Klimawechsel innerhalb von acht Tagen war ich ganz or­dentlich gebeutelt und konnte sehr schlecht schlafen.

Aber ich erzähle lieber von China. Zunächst hatte ich vor, Ihnen eine Foto­kopie meines Reisetagebuches zu schicken, musste dann aber einsehen, daß die Aufzeichnungen, zumal in Kopie, sehr schlecht zu

entziffern sind. Also werde ich in Auszügen versuchen, meine Eindrücke zu schildern. Zur Hinreise bis Moskau ist wenig zu sagen. Via Düsseldorf fuhr ich mit dem Zug nach Frankfurt. Mit einer sehr bequemen (bekommt noch Bedeutung) Lufthansa-Maschine war ich in wenig mehr als zwei Stunden in Moskau. Wie sich herauss­tellte, war für eine Reiseleitung erst ab Peking gesorgt worden, und so war ohne Dolmetscher und Visum der Kampf mit den russischen Behörden aufzunehmen, ­damit die Durchreise nach China gestattet wurde. Das ging jedoch wider Erwarten recht reibungslos, und ich dachte schon, daß es in Rußland gar nicht so schlimm sei. Bis zum Weiter­flug nach China waren vier langweilige Stunden im Transitbereich des Moskauer Flughafens zu verbringen. Es gab dort nichts zur Unterhaltung, es war fast kein Licht da, man sparte offensichtlich Strom, zugig war es auch, und meine deutschen Zeitungen hatte ich nicht mitnehmen dürfen. Also schrieb ich mein Tagebuch, mummelte mich warm ein und wartete. Als für ein paar Minuten die stockfinstere Cafete­ria aufmachte, trank ich eine Selter für ein paar Kopeken.

Endlich war der Start nach Peking klar. Es flog die staatliche Fluggesellschaft der Volksrepublik.
Das volkseigene Flugzeug war eine uralte russische Iljuschin, die wunderbar flog, aber so komfortabel war wie ein indisches Nagelbrett. Neun Stunden waren herumzubringen, der Schlaf floh die Reisenden und die trockene Luft war quälend.


Straßenszene 1985 - im Land der "blauen Ameisen"

Tags drauf um 11.00 h Ortszeit Ankunft in Peking. Jedermann war ob des Fluges und des Zeitsprunges zerschlagen und so wurde nach unkomplizierter Einreise und einem erstklassigen Lunch in einem tollen Hotel-Restaurant auf die zunächst vorgesehenen ersten Exkursionen verzichtet. Die wurden auf die folgenden Tage verteilt. Mein Schlaf im chinesischen Hotelbett war äußerst gesund und ruhig, obwohl die Matratze anscheinend mit Seegras gestopft war und das Kopfkissen aus einem steinharten Beutel bestand, der wohl mit Reis o.ä. gefüllt, d.h. fest gestopft war. Ich schlief herrlich. Der Komfort war besser als west­licher Standard.

Am nächsten Morgen ging es mit dem Besichtigungsprogramm los. Den Anfang machte eine Busfahrt durch das riesenhafte Peking. 10 Millionen Menschen leben dort, 5 Millionen Fahrräder sind amtlich zugelassen (mit Schild, wie bei uns die Autos). Man hat den Eindruck, ständig sei die gesamte Bevölkerung auf der Straße unterwegs. Überall wird gebaut. Quadratkilometergroße Baustellen umgeben die Stadt von allen Seiten und dringen langsam ins Zen­trum vor. Man macht den gleichen Fehler wie im Westen vor 20-30 Jahren und baut riesige Betonsiedlungen. Die eingeschossigen üblichen Hof-Wohnhäuser müs­sen dafür weichen.


Tienanmen - Tor des himmlischen Friedens 1985

Erste Station: der Tien-an-men-Platz, größter Platz der Welt mit Raum für 1 Million Menschen. Den Platz umgeben beeindruckende Gebäude wie zwei alte Tore (Tor des himmlischen Friedens und Südliches Haupttor der ehemaligen Verbotenen Stadt) und neue Gebäude aus der Zeit nach der Revolution (Hal­le des Volkes/Parlament, Historisches u. Revolutions-Museum, Mao-Mausoleum). Weiter ging´s in den nördlich anschließenden Kaiserpalast (Winterpalast), der in der Verbotenen Stadt liegt. Es ist eine riesige rechteckige ummauerte Stadt in der Stadt, in der es Gebäude mit 999 Zimmern gibt (der Himmel hat 1000 Zim­mer).Tausende von Menschen schlendern durch die Anlagen.
Es fiel mir bei al­len folgenden Besichtigungen auf, daß ungeheuer viele Chinesen mit Interesse die historischen Stätten besichtigen. Abseits meiner Gruppe hatte ich ein paar nette Begegnungen mit Chinesen und die Verständigung war auch ohne Sprachkennt­nisse möglich.
Der Nachmittag gehörte dem Himmelstempel, wieder einer Anlage von unerhörten Dimensionen, wie auch alle später besichtigten Anlagen aus kaiserlicher Zeit.
Der Sinn für des Monumentale ist den Chinesen allerdings scheints noch immer ei­gen, denn die öffentlichen Gebäude sind auch heute noch mächtig angelegt. Der Himmels­tempel liegt im Süden der Stadt in einem wundervollen Park. Leider war über­all die Vegetation noch nicht so weit, die Landschaft erschien überwiegend in braun-grau.

Abends Umzug in ein anderes Hotel, das „Freundschafts – Hotel“. Es ist ein Gebäu­dekomplex von ca. einem qkm, ummauert und bestens organisiert. Zutritt ist nur Ausländern oder Chinesen mit Erlaubnis gestattet. Komfort und Service entspre­chen unserer Spitzenklasse. Anschließend hatte das staatliche Reisebüro eine Vorstellung der Peking-Oper arrangiert. Zunächst war es ja recht interessant und vor allem farbenfroh, die Musik gefiel mir, aber der Gesang zerrte an meinen Nerven. Schließlich übermannte mich (wie übrigens die meisten männlichen Mitglieder der Reisegruppe) ein gnädiger Schlaf.
Die Reisgruppe, die erst in Moskau aus verschiedenen Richtungen zu­sammengetroffen war, bestand aus vielen Nationalitäten: da waren vor allem Amerikaner, Engländer und Deutsche, aber auch Leute aus Frankreich, Belgien, der Schweiz und Kanada. Auch ein Jugoslawe war mit. In der Pause wurde die Gruppe mit dem Bus zum Hotel gebracht. Ein Segen, denn die Oper dauert drei Stunden.
Mittlerweile hatte sich ein Sandsturm erhoben, der immer stärker wur­de. Meinen Abendspaziergang mußte ich mit vors Gesicht gebundenem Halstuch abbrechen. Mitten in der Stadt war die Luft gelbbraun vom Sand und Staub aus der Wüste und alles überzog sich damit.
Der Schlaf der Nacht war wieder äußerst gesund.


Ming-Gräber - Wächterallee 1985
Der folgende Tag bot gleich zwei wirkliche Höhepunkte. Nach einem Besuch der Ming-Gräber stand die Besichtigung der Großen Mauer auf dem Reiseprogramm. Ca. 2 Stunden außerhalb Pekings liegt ein

Wächterallee 1985
Talkessel von 40 qkm, in dem verstreut die Gräber vieler Kaiser der Ming-Zeit die Zeit überdauert haben. Über die berühmte Geisterallee mit lebensgroßen Tiaren und Wäch­tern aus Stein erreicht man das Gebiet, in dem nur ein Grab gänzlich erschlossen und für das Publikum geöffnet ist. Ähnlich wie bei den Pharaonen sind die Grabkammern tief in den Berg getrieben worden. Man steigt ca. 30 m tief hinunter und betritt dann Hallen aus Granit und Marmor, welche die Grabbeigaben und Sarkophage enthalten. Heute stehen nur noch Reste da, die Originale sind in Museen geschafft worden.

Ich muß übrigens erwähnen, daß in Peking vom ersten Besichtigungstag an bis zur Abreise die Sonne schien und frühlingshafte Temperaturen zwischen 10 und 15 Grad herrschten. Ich hatte  aber Probleme mit einer Erkältung, die Ich mitgenommen hatte, denn die Luft war überall der­art trocken, daß ich nachts kaum Luft bekam und tagsüber Halsschmerzen und Schnupfen hatte. Ich gewöhnte mich daran, immer ein Glas Wasser am Bett zu haben und auch tagsüber viel zu trinken und Bonbons zu lutschen, das half. Schließlich wurde ich sogar die Erkältung fast los. Der Spaß an der Reise hat nicht darunter gelitten.

Nach einem üppigen Mittagessen in einem Restaurant auf dem Lande ging es mit dem Bus weiter zur Großen Mauer. Jetzt kam der erhebendste Moment für mich - darauf hatte ich mich am meisten gefreut. Seit meiner Kind­heit hatte ich davon geträumt, diese Mauer zu sehen, meinen Fuß auf sie zu setzen. Nun

Große Mauer bei Badaling 1985
wurde der Traum wahr. Mao sagt: „Wer nicht zur Mauer gekommen ist (gemeint ist der Lange Marsch) ist kein Held. “Nun, ich bin jetzt einer. Was für ein Bauwerk aber auch! Mit 6000 km Länge, 8 m Höhe und 4 m Breite ist es das einzige von Menschenhand geschaffene Bauwerk, welches auf der Erde vom Mond aus mit bloßem Auge sichtbar ist. Einst als Grenzwall zwischen verfeindeten Fürsten gebaut, wurden die einzelnen Mauern schließlich miteinander verbunden als Schutzwall gegen die Nomadenvölker aus dem Norden, also die Mongolen, ausgebaut und haben diesen Zweck auch Jahrhunderte lang erfüllt. Da war ich nun also und ließ es mir nicht nehmen, bei strahlender Sonne und frischem Wind, man war immerhin in den Bergen, den Auf­stieg zum nächstgelegenen höchsten Turm zu unternehmen. Oben schnaufend angekommen - die Mauer ist z.T. sehr steil und hat Stufen bis 60 cm Hö­he - lohnte der erhebende Ausblick die Mühe. Kilometerweit konnte

Große Mauer bei Badaling
man das Band der Mauer sehen, wie es sich bruchlos über Bergkämme und -rücken schlängelt, sich selbst an schärfste Grate und steilste Felsen klammert und wirklich unüberwindbar wirkt. Wenn auch stellenweise eingefallen und zum Häuserbau abgetragen, ist sie auch heute noch gigantisch. Ich muß zugeben, dass ich sehr sehr stolz war und über die Maßen glücklich.
Der Abend war ohne Programm. Man brauchte aber auch die Zeit, um sich auf das Gesehene zu besinnen. Ein Bier in der Bar half entspannen. Das Bier ist ausgezeichnet, sofern es aus Peking oder Tsingtau kommt und ich habe manche Flasche genossen, zumal es kostenlos in Mengen zu jeder Mahlzeit (außer Frühstück) gereicht wurde.

Der nächste Tag war von morgens bis abends mit Programm versehen und ließ keine Wünsche offen, außer, daß ich vieles gerne länger betrachtet und mich an schönen Plätzen gerne länger aufgehalten und mehr mit, den Menschen gesprochen hätte.
Nach einem kurzen Abstecher in den Zoo, wo die Pandas zur Besichtigung standen, ging es weiter zum kaiserlichen Sommerpalast, der bis zur Revolu­tion im Jahr 1911 während der Sommermonate Regierungssitz und Hof der Kaiser und Kaiserinnen war. Es ist eine phantastisch schöne Anlage von vielen qkm mit Hügeln, Teichen, Seen, Brücken und etlichen Palast- und Tempelgebäuden, einem Theater (dem größten des Reiches) sowie Pagoden und Wandelgängen. Vieles wurde während der Revolutionswirren und in der Kul­turrevolution zerstört. Heute wird das ganze Areal sorgsam gepflegt und dem Volk zur Verfügung gestellt. Der Besucherandrang war stark. Der Park­platz vor dem Gelände war gestopft voll mit abenteuerlichen Bussen, die man bis zum Bersten gestopft voller Menschen heranrattern sah. Nach dem wieder üppigen Lunch im Hotel wurde der Pekinger Lama-Tempel besichtigt. Es ist der größte außerhalb

Lama-Tempel Peking (Beijing)
Tibets und liegt mitten in der Stadt. Während der Kulturrevolution geschlossen, wird er jetzt wieder von Mönchen unterhalten und benutzt. Die Anlage ist gepflegt und sauber, alles wirkt wie aus einer anderen Welt, als ob die Zeit stehe. Draußen tobt der Verehr, hier herrschen Ruhe und Besinnung. Wenige Mönche lassen sich sehen. Das Fotografieren in den Gebäuden ist streng verboten, gut so. Da sich das Kloster von Spenden unterhält, kann, man gegen selbst zu bestimmendes Entgelt ein Räucherstäbchen entzünden. Die Touristen

Ob das Wünschen hilft?
sind da nicht knickerig. Und auch uniformierte Revolutionsgardisten und Volksarmisten drückten Münzen in die Ornamente großer Vasen, um Wünsche erfüllt zu bekommen. Leider fehlte an diesem helligen Ort nicht „die“ amerikanische Touristin, die sich nicht entblödete, in Shorts und mit nackten Beinen herumzulaufen. Die Chinesen, auch die Mönche, zeigten ihr nicht ihr Mißfallen, doch hinter ihrem Rücken wurde getuschelt; mit dem Kopf geschüttelt und mit den Fingern gezeigt.

Am frühen Abend chauffierte man die ganze Gesellschaft zum „Freund­schaftsladen“, einem Warenhaus für Ausländer, damit ein jeder sich für gute Devisen mit Souvenirs und Geschenken eindecke. Das taten dann auch alle, ich natürlich mit. Ich erstand vor allem Lackdöschen, verschiede­ne Siegel, Jadesachen und ein paar Bücher über das, was ich gesehen hatte. Geld brennt mir in der Tasche, also lasse ich es heraus.

Alle (9) Fotos © Frank Becker


Lesen sie an dieser Stelle morgen den zweiten Teil dieses Reiseberichtes...