Das Geweih

Eine Erzählung

von Michael Zeller

Das Geweih
 
Man schaut den Leuten ja immer nur bis vors Gesicht.
Dieter Gerlach mußte lachen. Großmutter – sie hatte den Spruch oft gebraucht, und er machte sich lustig darüber, vor allem in früheren Jahren: Eine von Oma Elses vorsintflutlichen Lebensweisheiten. Auch jetzt lachte Gerlach wieder, aber irgendetwas alarmierte ihn doch.
Und dabei war das heute wirklich ein gelungener Tag gewesen. Gerlach fühlte sich glänzend auf dem Heimweg, nach Wuppertal. Rechts vor ihm türmten sich schon die Ruinen von Hohensyburg auf. Wenn er sie sah, war er so gut wie zu Hause. In einer halben Stunde würde er Suse die Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Es war noch früh genug am Abend.
Sein Termin in Altena – einfach perfekt. Nicht zu toppen. Anders konnte er es nicht sagen. Den ganzen Tag hatte er mit diesem Vorndran verbracht. Betriebsbesichtigung, Gespräche zu zweit im Chefzimmer (arg dunkel getäfelt), Mittagessen mit einer Handvoll führender Angestellter. Besser konnte es nicht gehen. Und dieses Altena war eine ganz hübsche kleine Stadt. Hier käme er gerne wieder her, und danach sah’s ja auch tatsächlich aus.
Das Gespräch mit Karl Conrad Vorndran – wer behauptete eigentlich immer, die Sauerländer seien stur? Anfang Fünfzig vielleicht. Bei einem Vollbart ließ sich das schwer schätzen. Die blaue Wildlederjacke hätte Gerlach ohne zu zögern selbst angezogen. Den Schlips mit den Hirschgeweihen eher nicht.

Vorndran & Söhne. Ein gesunder Mittelbetrieb mit knapp sechzig Angestellten. Seit vier Generationen in Familienhand. Nadeln, Nieten, Schrauben. Von den Sprungfedern hatte man sich in den neunziger Jahren getrennt, später noch von den Fahrradspeichen. Und der jetzige Vorndran erkannte die Notwendigkeit, seine Produkte neu zu positionieren, gerade auch gegenüber der Konkurrenz aus dem Ausland. Dabei sollte Gerlach helfen.
„Markenkapital ist heutzutage wichtiger als Stammkapital“, hatte der natürlich beim Mittagessen gleich in diese Kerbe gehauen, zwischen Suppe und Hauptgang. „Wer sich unterscheiden will, muß sein Produkt einzigartig machen, unverwechselbar. Bringen Sie Ihre Marke in Sicherheit!“ Gerlach spulte sein volles Programm ab, Punkt für Punkt.
Vorndran war beeindruckt. „Ja, genau daran hakt’s bei uns“, stimmte ihm der Firmenchef offen zu, und seine Angestellten nickten stumm. „Unsere Produkte sind Spitze, da scheuen wir keinen Vergleich. Auf der ganzen Welt nicht. Im Gegenteil. Aber – wie nannten Sie das eben? Markenpersönlichkeit? Das gefällt mir. Da haben wir deutlich Defizite. Aber deshalb sitzen wir ja jetzt hier zusammen, Herr Gerlach.“
Am späten Nachmittag begleitete Vorndran ihn noch zum Parkplatz, im Schatten von fünf alten Eichen. Zum Abschied klopfte er ihm auf die Schulter. „Bringen Sie hier frische Luft rein. Ich lasse Ihnen freie Hand.“
Diese Geste steckte Gerlach an. Er war euphorischer als sonst auf dem Heimweg. Vom Bauch her hatte er ein richtig gutes Gefühl. Daß ihm ausgerechnet jetzt dieser altmodische Spruch von Oma Else durch den Kopf spukte, störte ihn ein bißchen, aber beunruhigen ließ er sich davon nicht. Dafür war der Tag heute in Altena einfach zu rund gelaufen. Jetzt dachte er nur noch an Suse und an seinen Feierabend.

Vier Wochen später saßen Dieter Gerlach und Karl Conrad Vorndran einander wieder gegenüber, im dunkelgetäfelten Firmenkontor. Er fühlte sich gut. In der Aktenmappe steckte sein Trumpf: das kompakte Heft, in Querformat, ihre Arbeit von Wochen, für die anstehende Fachmesse in Leipzig. Diesmal zeigte Vorndran & Söhne dort ein anderes Firmengesicht. Sein Art Direktor Atze Wolfrum hatte saubere Arbeit geleistet, wie immer. Grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotografie. Garamond-Schrift in Orange, sparsam. Topaktuell.
„Die Aggressivität von Nadeln“, hatte Wolfrum gleich geschwärmt. „Das ist es. Nadelspitz. Genau! Da müssen wir drauf gehen! Gnadenlos.“
Ein Foto zeigte einen Porsche vor der schönsten Meereskulisse des Südens. Palmen, Sand, Wellenschaum. Davor der Sportwagen, ohne Verdeck. Lädt ein zur Fahrt im warmen Küstenwind. Doch er steht. Der Reifen vorne platt.
Noch schriller war die andere Seite. Ein halbnackter Bursche, mit hell gefärbten Rasta-Locken bis auf die Schultern. Seine beiden Brustwarzen waren gepierct: Nadeln aus dem Hause Vorndran.
Mit dieser Stille hatte Gerlach als letztes gerechnet. Vorndran blätterte das Heft durch, vor und zurück und noch einmal. Sein Gesicht verriet nichts. Doch, es verriet Gerlach genug. Begeistert war sein Geschäftspartner nicht. Immer noch kein Wort. Statt etwas zu sagen, stand der auf, zog ein Papier aus dem Regal und schob es ihm hin. Ein Hochglanz-Katalog, ein dünnes Heft in Din A 4. Alle Nadeln, Nieten, Schrauben der Fa. Vorndran & Söhne säuberlich porträtiert, mit endlosen Zahlenkolonnen, kleingedruckt. Vorne, unter dem verschnörkelten Firmenwappen, das Foto eines stämmigen bärtigen Mannes im Jagdanzug, mit Hut und Zigarre, quer über den gewaltig gewölbten Bauch eine Uhrkette gespannt. Links und rechts zwei Setter, die zu ihrem Herrn hochschauen. Der Firmengründer Karl Jacob Vorndran aus dem neunzehnten Jahrhundert.
„Sehen Sie, Herr Gerlach“. Endlich zerbrach der jetzige Patron von Vorndran & Söhne die Stille im Raum. „Wir sind ein Unternehmen mit Tradition, in der vierten Generation. Unser Name hat einen guten Klang in Altena und im ganzen Sauerland. Zu unseren Kunden zählen keine Porschefahrer. Und schon gar nicht so ein abgerissener Lümmel. Lebt wahrscheinlich von Sozialhilfe. Tünickel sagen wir hier zu so einem.
Es tut mir leid, Herr Gerlach. Aber da müssen wir uns gründlich mißverstanden haben.“

Dieter Gerlach legte einen Vivaldi in sein Autoradio ein. Wenigstens hatte sich der Stau bei Schwerte aufgelöst. Die Barockmusik füllte den ganzen Wagen aus, und sein Kopf wurde leer dabei. Immerhin. Irgendwann, hinter Hagen, geisterte wieder dieses Wort von Oma Else durch seine Gedanken:
Man schaut den Leuten ja immer nur bis vors Gesicht.
Recht hatte sie gehabt, seine Großmutter. Man könnte eigentlich wieder mal auf den Friedhof gehen. Ruhig mit Suse.
 
 
 
© 2013 Michael Zeller – Erstveröffentlichung in den Musenblättern