Verlorene Unschuld

St. Tropez in den Cartoons von Jean-Jacques Sempé

von Frank Becker


Verlorene Unschuld
 
St. Tropez in den Cartoons von Jean-Jacques Sempé
 
In den 35 Jahren seit der französischen Erstauflage von Jean-Jacques Sempés „St. Tropez“ hat sich in dem „kleinen Fischerdorf“ im Prinzip nicht viel geändert. Gut, das allgemeine Tempo hat sich den Zeichen der Zeit folgend erhöht, die Reichen sind noch reicher geworden und die normalen Menschen wurden noch ein wenig mehr in den Hintergrund gedrängt. Die letzten Fischer von damals sind längst in Rente, und wer damals jung war, schaut heute mit ein wenig Wehmut zurück auf die „gute alte Zeit“, in der alles noch ach so ganz anders war. Das aber ist falsch, denn die Entwicklung, geschah so proportional, daß die Verhältnisse wieder stimmen. Eitelkeiten, Begehrlichkeiten, Langeweile, Angeberei, aber auch die ganz kleinen Freuden sind wie sie waren, sehen gelegentlich vielleicht ein ganz klein wenig anders aus. Auch wenn die Zeit eilt, bleiben doch die Umstände ähnlich. Man könnte auch sagen: Sempé hat mit seinen Cartoons anno 1968 ein visionäres Bild des beliebten Urlaubsortes an der Côte d’Azur, seiner Bewohner und seiner Besucher skizziert. Als ich 1971 mit meinem R4 und Kumpel Jürgen dort ankam, lag der Hafen voller luxuriöser Yachten, Träume in weiß, genau wie von Sempé festgehalten, die jeunesse dorée trug ihre großen Sonnenbrillen spazieren, der Finanzadel und die goldkettchenbewehrten Möchtegern-Playboys nebst ihren blondierten Püppchen bevölkerten die Cafés an den Quais.


© Sempé
 
„Es gibt ein kleines Fischerdorf. Mag sein, daß es noch mehr Fischerdörfer gibt, doch nirgends begegnet uns soviel Freiheit, Einfachheit, Lebensfreude, intellektuelles Leben wie in jenem kleinen Paradies, dem Dörfchen St. Tropez.“, hieß es in der deutschen Erstausgabe 1970. Anna Cramer-Klett hat die Übersetzung der knappen Texte und gelegentlichen Dialoge der Sprechblasen zu den bis heute gleich aussagekräftigen Zeichnungen Sempés gründlich überarbeitet, sprachlich à jour gebracht: „Es gibt da ein kleines Fischerdorf. Mag sein, daß es noch mehr solcher kleiner Fischerdörfer gibt, doch nirgends finden wir so viel Freiheit, Einfachheit, Lebensfreude, intellektuelles Leben wie in jenem kleinen Paradies mit Namen Saint-Tropez.“ Aber Sempés Bilder benötigen gar nicht immer Worte, wenn er die auch sehr pointiert zu setzen versteht. Sensibel portraitiert er das Sichtbare und noch sensibler das Unsichtbare auch in den wortlosen Sujets.
Das mit dem Dorf ist natürlich längst Geschichte, denn all die idyllischen Küstendörfchen, die einmal froh darüber waren, „entdeckt“ zu werden, sind längst vom Kommerz aufgefressen worden. Sempés beinahe historischer Rückblick - jetzt ist es einer - beleuchtet mit feiner Ironie, viel Liebe und teils bissigem Humor die Schnittstelle zwischen damals und heute. Wenn man sich in aller Muße sein „St. Tropez“ anschaut möchte man eigentlich wieder hin- oder vielleicht doch nicht.

Der Rezensent 1971 in St. Tropez
Foto © Frank Becker
 

© Sempé
Viele bisher unveröffentlichte Zeichnungen ergänzen in der aktualisierten Neuauflage dieses Sempé-Klassikers die „historische Ausgabe“ exemplarisch zu einem bunten Schwarz/Weiß-Kaleidoskop eines für viele stehenden Fischerdörfchens, die ihre Unschuld verloren haben. Ein Genuß.


Jean-Jacques Sempé – „St. Tropez“
© 2013 Diogenes Verlag, 120 Seiten, Leinen mit umlaufend illustriertem Schutzumschlag, aus dem Französischen von Anna Cramer-Klett  -  ISBN 978-3-257-02123-3
€ (D) 39.90 / (A) 41.10 / sFr 55.90*
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch