Der Zeichner als Erzähler (2)

“The Evil Garden” von Edward Gorey

von Joachim Klinger

© Diogenes Verlag
Der Zeichner als Erzähler
 
Bildbücher, die ich nicht missen möchte (2)
 
von Joachim Klinger


II
 
“The Evil Garden” (Der Übel-Garten/Der böse Garten)
von Edward Gorey
(Pomegranate Communications, Inc. Pentaluma, CA 1965)
 
Der Künstler Edward Gorey, Werbegrafiker, Illustrator, Art Director, Bühnenbildner, Zeichner und Schriftsteller, wurde 1925 in Chicago geboren. Er starb im Jahr 2000.
 
Seine zahlreichen unwirklichen und unheimlichen Geschichten und Zeichnungen erfreuen sich insbesondere im angelsächsischen Raum großer Beliebtheit. Oskar Kokoschka soll seine Werke “sublim, absurd und mystisch” genannt haben.
Manches wirkt so morbid und makaber, so fremdartig und gräßlich, daß selbst die Verkünder des Schrecklichen Edgar Allan Poe und Alfred Kubin das Frösteln ankommen würde. Marcel Proust und Rainer Maria Rilke würden sich der Begegnung durch eine sanfte Ohnmacht entziehen …
 
Ich habe eine ganze Reihe von Büchern, die Edward Gorey veröffentlicht hat, darunter “Der zweifelhafte Gast” und “Die Draisine von Untermattenwaag”. Lieb ist mir “Eine Harfe ohne Saiten”, eigentlich ein Roman (freilich mit kurzen Texten!). Behandelt wird an einem Beispiel “Wie man Romane schreibt”, und das geht natürlich nur, in dem man die Form des Bildromans wählt.
Goreys Gestalten scheinen der viktorianischen Zeit zu entstammen. Die Damen stecken in langen und steifen Kleidern, die meist bärtigen Herren im Pelzmantel oder Tennis-Dress. Gorey trug übrigens mit Vorliebe zu seinem Vollbart Pelzmäntel, die bis zu den Stiefeln reichten, und wohnte in einer Villa aus dem späten 19. Jahrhundert.
 
“The Evil Garden”, der mein Favorit ist, liegt mir nur in englischer Sprache vor. Ich habe die insgesamt 14 Verse (jeweils Zweizeiler) gern übersetzt.
Eine Gruppe von Menschen, in der geschilderten Weise altmodisch gekleidet, steht vor dem geschwungenen Eingangstor mit der deutschen (!) Inschrift “Eintritt frei”:
 
            “Wie exquisit! Ein Jubelschrei:
            Stellt euch das vor! Der Eintritt frei!”
 
Aber was erwartet die Besucher? Der trübe Klang eines Tränen-Falls, ekelhafter Geruch seltsamer Blumen, bedrohliche Winzlinge, Termiten ähnlich. Es kommt noch schlimmer. Eine riesige Motte setzt sich auf Pfarrer Poggels Jacke, Großonkel Franz wird von einer mächtigen Schlange langsam, aber nachhaltig erdrückt und
 
            “Ein Schwarm Insekten, stark behaart,
            raubt Baby für die Himmelfahrt.”
 
Der weiße Bildhintergrund wird jäh in tiefes Schwarz getaucht. Die Menschen stieben auseinander und stürzen. Wir ahnen ein schreckliches Ende. Ja, wenn der Eintritt frei ist! …
 
Immer bleiben bei Gorey alle Fragen offen, die tiefgründigen und die nebensächlichen.
Was wird aus dem Eindringling, im Aussehen eine Mischung aus Pinguin und Golfschläger, der nach siebzehn Jahren immer noch bei einer permanent irritierten Familie wohnt und das düstere Haus ruhelos durchstreift? (“Der zweifelhafte Gast” by Daniel Keel / Diogenes Verlag Zürich 1961).
Wer hat Nelly Samtvogt an Eisenbahnschienen festgebunden? Wo verblieb der kleine Knabe, den man in Mürzwiehlen an den Haken eines Gestells, das für Postsäcke gedacht war, aufgehängt hatte? (“Die Draisine von Untermattenwaag”, ein Diogenes Tabu).
 
Wir werden es nie erfahren. Gehen wir davon aus, daß unsere schlimmsten Befürchtungen übertroffen werden!
 


Lesen Sie morgen an dieser Stelle Teil 3 (von insgesamt 10) der neuen Serie von Joachim Klinger