Willi

Eine Erzählung vom Wert der Freundlichkeit

von Karl Otto Mühl
Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Willi
Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. In die fünfzig Jahre nach 1800 fielen bei dem alten Goethe noch seine Verliebtheit in die junge Ulrike, unverständliche Musiker und Dichter, nach seinem Tod Sozialrevolutionäre und der von Bismarck erzwungene Zusammenschluß der Länder zum Deutschen Reich, ein gewaltiger Zeitsprung.
Ich war 1948 aus französischer Gefangenschaft nach Hause zurückgekehrt, war städtischer Angestellter geworden, hatte lange nach einer Frau gesucht – wie gesagt, lange. Länger als andere. Und inzwischen sind 50 Jahre vergangen.
Während dieser Zeit machte ich Sonntags und auch oft Samstags viele einsame Spaziergänge, fast immer allein.
Aber im Nachbarhaus wohnte Willi, und auch der war trotz seiner Geschwister oft allein, auch nach Abschluß der Grundschule, und er sprach mich öfter an.

Er hatte einen wachen, flinken Blick, und ich hörte ihn nie ein häßliches oder haßerfülltes Wort sagen.
Er war auch froh, daß er mich eine Zeitlang auf meinen Spaziergängen begleiten durfte. Für ihn hatte ich schon etwas erreicht,  ich, der ich mit meinen Eltern in einer Dachwohnung lebte, und den äußerlich nur das auf Raten gekaufte Sakko von ihm unterschied. Er redete munter auf mich ein, hörte aber ebenso aufmerksam zu.
Eines tat ich für ihn. Ich schaffte es, ihm durch einen Freund eine Lehrstelle in einer Schleiferei zu vermitteln. Ich hörte manchmal von Willi: Er habe die Lehre abgebrochen, er laufe wieder herum, nein, Mädchen interessierten sich nicht für ihn, dann – er habe eine neue Lehre angefangen.

Und jetzt stand er vor mir, auf dem Parkplatz vor ALDI. Beide schoben wir einen umständlichen, vollgepackten Einkaufswagen. Wen er zu versorgen hatte, wußte ich nicht. Ich allerdings kaufte nur für mich ein, meine Frau lebte nicht mehr.
„Ich fand Sie immer toll“, sagte Willi. Ich lachte und sagte, ich sei ein kleiner Angestellter gewesen, und das sei ich geblieben.
„Nee, nee,“ sagte Willi, „Sie waren wirklich toll. Sie waren schnieke angezogen, Sie verdienten Geld, Sie haben mir Zigaretten geschenkt – damals habe ich noch geraucht – und Sie haben mir eine Stelle besorgt. Ich glaube, Sie lasen auch Bücher. Es geht Ihnen doch gut?“
„Wunderbar,“ antwortete ich, „ich bin ja in Rente.“
„Das haben Sie auch verdient,“ bemerkte Willi mit Überzeugung.

„Und du,“ fragte ich. „Ist natürlich fast unmöglich heute, Arbeit zu kriegen. Sicher schwer für dich.“
Das wiederum nicht, sagte Willi bescheiden. Er schloß sein Auto auf und klappte den Kofferraumdeckel hoch, um einzuladen. Wir standen vor einem silbergrauen Mercedes.

„Ja – ja,“ stotterte ich, „ist das deiner?“

„Ist schon älter. Ich hab jetzt `nen neuen bestellt,“ erwiderte Willi.

„Ja, aber was machst du denn? Daß du soviel gespart hast...“
Willi erklärte mir alles. Er habe ja immer gern „gekungelt“. Wenn jemand eine alte Eisenbahn auf dem Oller hatte, habe er sie gekauft und weiterverkauft. Jetzt habe er ein Geschäft – Haushaltsauflösungen, Antik -, natürlich zwei, drei Leute, die ihm halfen. „In zwei drei Jahren macht das der Junge von mir. Dann habe ich aber immer noch genug zu tun mit den Häusern – Sie haben keine Ahnung, was da alles zu erledigen ist, auch der Schreibkram. Was gucken Sie so? Ist doch nix Besonderes. Ich kungele bloß gern.“
„Hm.“
Ob ich denn mit meiner Wohnung zufrieden sei, fragte er. Wäre doch prima, wenn ich in seinem Haus wohnen würde! Ein großes Mietshaus sei das. Er habe es hauptsächlich gebaut, weil er seinen Eltern eine Wohnung schenken wollte Na, wäre das was für mich? Er würde mir auch eine ganz niedrige Miete berechnen.
„Danke, Willi“ sagte ich, „Danke. Aber stell dir vor, ich wohne in demselben Mietshaus, in dem ich mit meinen Eltern gewohnt habe. Da wurde zufällig eine Wohnung frei, und jetzt will ich nicht mehr da weg. Die ganzen Erinnerungen, weißt du. Ist zwar ziemlich klein, die Wohnung, aber für einen Alleinstehenden, weißt du...“
„Ach so,“ sagte Will fast gleichmütig. Aber dann wurde er lebhaft: „Dann müssen Sie uns sonntags besuchen. Vielleicht zum Essen? Meine Frau wird sich wahnsinnig freuen. Der habe ich immer von Ihnen erzählt.“



© 2007/08 Karl Otto Mühl (Erstveröffentlichung, auch dieser Neufassung in den Musenblättern)

Karl Otto Mühl, * 16.2.1923 in Nürnberg
Dramatiker (Auswahl: "Rheinpromenade", "Rosenmontag", "Die Reise der drei alten Männer", "Kur in Bad Wiessee",
"Wanderlust", "Kellermanns Prozeß", "Ein Neger zum Tee")
Prosa-Schriftsteller (Auswahl: "Trumpeners Irrtum", "Siebenschläfer", "Nackte Hunde", "Hungrige Könige")
Lyrik (zuletzt: "Inmitten der Rätsel"), Hörspiele, Fernsehspiele


Weitere Informationen:  www.nordpark-verlag.de