Hagenbuch und die Harzreise

von Hanns Dieter Hüsch

    © André Polozcek / Archiv Musenblätter
Hagenbuch und die Harzreise
 
Hagenbuch
Hat jetzt zugegeben
Daß sich seine Cousine immer
Mitten im Sommer
Auf der Fahrt mitten in den Harz
Beim Umsteigen auf einem der Bahnsteige
Des Eisenbahnknotenpunktes Langendreher
Habe übergeben müssen
Während
Er selbst
Gleich nach der Ankunft
Mitten im Harz
In der alten Kaiserstadt Goslar
Stickhustenartige Anfälle
Mit unaufhörlichem Keuchen bekommen
Habe also seine Cousine
Die Tochter eines Sparkassenoberinspektors
Schon vorher
Noch auf der Fahrt mitten in den Harz
Immer beim Umsteigen auf einem der Bahnsteige
Des Eisenbahnknotenpunktes Langendreher
Sich übergeben
 
Und damit ihren Eltern
Und gleichzeitig sich
Und gleichzeitig seinen Eltern
Und ihm selbst
Den Urlaub von vornherein verdorben
So habe er
Hagenbuch
Gleich nach Ankunft mitten im Harz
In der alten Kaiserstadt Goslar
Durch stickhustenartige Anfälle
Mit unaufhörlichem Keuchen
Seinen Eltern
Und gleichzeitig sich
Und gleichzeitig seiner Cousine
Und ihren Eltern
Den Urlaub verdorben
Obwohl es im Haus der Verwandten seiner Cousine
Einer alleinstehenden Schwester des Sparkassenoberinspektors
Und einer weiteren
Mit einem Stadtgärtner verheirateten
Aber schon verwitweten Schwester
Und deren Tochter
Einem Einzelkind namens Agathe
Den besten Schokoladenpudding der Welt
Und die beste Weincreme der Welt als Nachtisch gegeben habe
Den er
Hagenbuch
Zu Hause
Also bei seinen Eltern nie bekommen habe
Und den auch seine Eltern
Bei ihren Eltern usw usw
Nie bekommen hätten
 
Und alle seien sie immer wieder
Nicht nur des Schokoladenpuddings
Und der Weincreme wegen
Sondern auch wegen des vierhundert Meter
Hohen Rammelsberges
Den er
Hagenbuch
Immer habe besteigen wollen
Den er aber aufgrund der schlagartig einsetzenden
Widrigkeiten in der alten Kaiserstadt Goslar
Nie bezwungen habe
Alle seien sie immer wieder
Mit unbändiger Freude und nicht zu beschreibender Ausgelassenheit
In jedem Sommer
Mitten in den Harz gefahren
Um den Herzberger Teich zu sehen
Oder nach Hahnenklee hinaus zu spazieren
Obwohl alle gewußt hätten
Daß sie sich alle gegenseitig den Urlaub verderben
Und nie den Herzberger Teich zu Gesicht bekämen
Und kein Weg sie nach Hahnenklee führe
 
Weil natürlich
So Hagenbuch
Auch seine Eltern
Und die Eltern seiner Cousine
Einerseits das Erbrechen in Langendreher
Und andererseits die sofort in der alten Kaiserstadt Goslar
Einsetzenden Stickhustenanfälle
Nicht auf die Dauer ertragen und hingenommen hätten
Im Gegenteil
Bald habe sich Elternteil gegen Elternteil gewandt
Und ständiges Erbrechen
Und ständiges Husten und Ersticken
Auf Erziehungsfehler zurückgeführt
Und obwohl gesund
Habe sich Elternteil mit Elternteil
Mitten im Harz
Oft in den Haaren gelegen
Und zwar manchmal so sehr
Daß er
Hagenbuch selbst
Mit seiner Cousine hustend und keuchend
Aus dem Bett
Mitten auf den Flur getreten
Um die zankenden Elternteile zu besänftigen
Angesichts der Aussicht
Doch noch eines Tages nach Hahnenklee
Oder zum Herzberger Teich zu gelangen
Aber schon bei der Abfahrt
Im Jahre darauf
Habe schon jeder gewußt
Daß es schiefgehe
Heute noch
Käme er
Hagenbuch
In die Gegend von Bebra und Kreiensen
Und dann weiter nördlich
Schließe er meist beide Augen
Und denke an Schokoladenpudding und Weincreme
 
Und daß es wenige Jahre darauf
In der alten Soldatenstadt Detmold
Ebenso schiefgegangen
Hagenbuch
Habe dort gleich nach Ankunft
Schon am ersten Tag
Durch Verzehr eines Omelettes mit Schinken und Speck
Seinem Vater die ganzen drei Wochen restlos verdorben
Und sein Vater
Der ihm täglich aufs Neue
Das berühmte Hermannsdenkmal habe zeigen wollen
Immer mit dem Hinweis
Daß in die Nase des Hermann
Ein ganzer Mensch passe
So groß sei der Hermann
Sein Vater habe die ganzen drei Wochen
Allein spazieren müssen
Auf und ab
\/on Detmold nach Hiddensee
Und von Hiddensee nach Detmold
Während er
Hagenbuch
Mit einem verdorbenen Darm .
In seinem Detmolder Zimmer
So Hagenbuch wörtlich
In seinem Detmolder Zimmer gelegen
Und die Stunden gezählt
Und die Tapete auswendig gelernt
Mitten im Sommer
 
Ebenso kenne er
Hagenbuch
Ein ähnliches Zimmer mitten in Thüringen
Unweit von Gotha
Ein Zimmer mit Vollpension
Sechs Mark und fünfunddreißig
In dem er sich gleich nach Ankunft
Gewissermaßen gleich nach dem ersten Betreten
Ins Bett gelegt
Mit vergiftetem Magen
Mitten im Sommer
In Tabarz
In der Nähe von Friedrichsroda
Wo andere immerzu Ausflüge machen
Immerzu wandern klettern singen und springen
Habe er
Hagenbuch
In seinem Thüringer Zimmer gelegen
Und um Wasser gebeten
 
Und er habe seinem Vater die Ferien zur Hölle gemacht
Weil sein Vater ihm nur erlaubt
Abgekochtes Wasser zu trinken
Er aber habe nur kaltes Wasser gewollt
Und sein Vater habe dann Wasser abgekocht
Und es habe volle zwei Tage gedauert
Bis das abgekochte Wasser so kalt gewesen
Daß es wie kaltes Wasser geschmeckt
Aber es habe so abscheulich geschmeckt
Daß er
Hagenbuch
Es nicht getrunken habe mitten in Thüringen
Unweit von Gotha
 
Und am Bodensee
Habe er später allen die Ferien verdorben
Durch einen durch und durch faulen und morschen Weisheitszahn
Der so faul und so morsch gewesen
Daß ihn der Arzt kaum habe ziehen können
Und der Arzt habe ihm
Hagenbuch
Ständig Vorhaltungen gemacht
Und durch die ganze Stadt nach Penicillin gerufen
Und er
Hagenbuch
Habe dem Arzt in der Zwischenzeit
Die Geschichte von seiner Cousine auf der Fahrt
Mitten in den Harz erzählt
Vom Eisenbahnknotenpunkt Langendreher
Und von seinen
Hagenbuchs schlagartig einsetzenden Widrigkeiten
In der alten Kaiserstadt Goslar
Und der Weisheitszahn wäre so faul und so morsch gewesen
Daß er
Hagenbuch
Dem Meersdorfer Zahnarzt alle Arbeit verdorben
So daß er
Hagenbuch
Noch Tage danach
Als der Zahn längst entfernt
In seinem Meersburger Zimmer gelegen
Mit Flechte und Aussatz
Aufgrund der Tabletten
Mitten im Sommer
Und er
Hagenbuch
Wisse noch hundert weitere Zimmer
In denen er
Mitten im Sommer gelegen
Und allen alles verdorben
Und er bewundere die
Die sich von Körnern ernähren
Von Körnern und Säften
Nie krank und hinfällig werden
Nie von innen nach außen
Oder von außen nach innen
Sich was zufügen
Nie anderen dadurch alles verderben
Keinem zur Last fallen
 
Er wolle gern auch so sein
Aber er schaffe es nicht
Er falle zur Last
Mitten im Sommer
Falle er
Hagenbuch
Mitten unter die Gesunden
 
 
Hanns Dieter Hüsch
 
 
© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Hagenbuch hat jetzt zugegeben & andere Rede- und Schreibweisen" (1979)
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung