Vom Singen und von italienischer Gesangstechnik (4)

Spelios Constantine zum Gedenken

von Ludwig Steinbach

Vom Singen und von
italienischer Gesangstechnik (4)
 
Spelios Constantine zum Gedenken

 
Ich kannte einmal einen Sänger, der an einem mittelgroßen Opernhaus ein prachtvoller italienischer Tenor war. Dann wechselte er an ein anderes, kleines Haus, an dem er ständig gerade Rollen wie Siegmund, Parsifal und Max singen mußte, die allesamt eine tiefe Tessitura aufweisen. Die Folge war, daß sich seine Stimme auf Dauer auf die Bariton-Tessitura einpendelte und er die Spitzentöne des Tenors verloren hat. Irgendwann sang er Amfortas statt Parsifal. Wenig später gab er an einem Staatstheater den Jago in Verdis „Otello“. Heute ist er u. a. auch als Wanderer im „Siegfried“ zu erleben.
 
Als weiteres Beispiel für diese Problematik sei ein mir ebenfalls gut bekannter Tenor genannt, der seine schöne, hohe Stimme im Lauf der Jahre hervorragend in den Körper bekommen hat und insbesondere im italienischen Fach enormen Höheglanz verströmt. Als ich ihn dann eines Tages als Max erlebte, mußte ich feststellen, daß sein Tenor aufgrund der tiefen Lage dieser Rolle nicht sonderlich gut zur Geltung kam. Zudem transponierte er in der Wolfschluchtszene etliche tiefe Töne um eine Oktave nach oben. Die von seiner Stimme in hohen italienischen Partien ausgehende Strahlkraft wollte sich beim Max nicht einstellen. Obwohl er rein technisch tadellos sang, blieb der Eindruck ein zwiespältiger; die Tessitura seiner Stimme und diejenige der Partie klafften zu sehr auseinander. Rollen wie diese sollten eigentlich nur von Tenören mit Baritonvergangenheit gesungen werden. Sie kommen mit der tiefen Lage besser zurecht.
 
An dieser Stelle ist noch eine erstklassige junge Sängerin zu erwähnen, die an einem hochkarätigen kleinen Haus als Sopranistin engagiert ist und deren Stimme im hohen italienischen Fach ebenfalls am besten zur Geltung kommt. Nun hatte sie vor einigen Jahren in einer Operette eine ungemein tief angesiedelte und eine ausgesprochene Mezzo-, ja fast eine Alt-Tessitura aufweisende Soubrettenpartie zu singen. Und wieder stellte sich bei mir derselbe Eindruck ein: Aufgrund der viel zu tiefen Lage blieb diese sonst ganz vorzügliche Sängerin weit unter ihrem sonstigen Niveau. Ihr Gesang entfaltete in dieser für sie ungünstigen und obendrein gefährlichen Lage überhaupt keine Wirkung. Zu allem Überfluß war irgendwann einmal am Tag nach dieser Operette eine tschechische Oper auf den Spielplan gesetzt, in der sie mit der hoch liegenden, bis zum hohen ‚c’ reichenden weiblichen Hauptrolle besetzt war. Und das gerade mal vierundzwanzig Stunden, nachdem sie in der ihr überhaupt nicht liegenden Operettenpartie auf der Bühne stand, von der sie selber zugab, daß sie viel zu tief für sie war. Ich hatte damals große Bedenken, ob das gut gehen würde, denn die Stimme braucht Zeit, um sich wieder auf die normale, höhere Tessitura einzupendeln. Und lediglich ein Tag ist dafür absolut zu wenig. Gott sei Dank wurde die Aufführung der Oper schließlich um einen Tag verschoben. Bei der ursprünglichen Terminierung hätte diese tolle Sopranistin leicht an der hohen tschechischen Opernpartie scheitern können.
 
Über diese für Sänger große Gefahr sind sich die Verantwortlichen an kleinen Häusern leider nicht immer bewußt, setzen die Spielfolge der Opern und Operetten willkürlich fest, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob das für die Sänger gut ist. Daraus erklärt sich auch, warum Ramon Vinay regelmäßig bei MET-Aufführungen der „Götterdämmerung“, in denen er den Siegfried zu singen hatte und die regelmäßig nur zwei Tage nach der „Walküre“, in der er als Siegmund besetzt war, stattfanden, nach eigener Aussage nie in Bestform war.
 
Als prominentes Abschreckungsbeispiel kann auch der Baß Josef Greindl gelten, der im Jahre 1960 in Bayreuth den Hans Sachs sang. Mit dem hoch liegenden Schusterpoeten kam er indes gar nicht zurecht. Der hohen Tessitura wurde er nur mit starkem Knödeln Herr und machte sich dabei die Stimme kaputt, die ab diesem Zeitpunkt immer fahler wurde. Ein Mitschnitt dieser von Hans Knappertsbusch geleiteten Aufführung ist im Handel erhältlich.
 
Als Quintessenz ergibt sich: Jeder Sänger sollte eigentlich nur die Rollen singen, die der Tessitura seiner Stimme entsprechen. Ausflüge in ein anderes Fach mögen unschädlich sein, sofern er gleich wieder zu seinem eigentlichen Repertoire zurückgeht. So hat der von mir eben erwähnten Sopranistin vor einigen Jahren ein kleiner Ausflug ins dramatische Wagner-Fach nichts geschadet, weil sie es bei einem Mal bewenden sein ließ und danach sofort wieder zu ihren angestammten lyrischen Partien zurückehrte. Trainiert werden muß aber immer der gesamte Stimmumfang. Deshalb mögen solche zeitweiligen Experimente manchmal durchaus sinnvoll sein. Nur übertrieben werden und Überhand gewinnen sollten sie nicht.
 
Ein gewaltsam erzwungener Wechsel in ein höheres, dramatisches Fach geht nur selten gut. Die höhere Tessitura erfordert, wie schon gesagt, viel mehr Kraftaufwand und verwehrt der Stimme oft jede Entspannung. Wenn dann auch noch die Luft knapp wird, ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis der Sänger die notwendige Körperstütze verliert, in den Hals geht und oft sogar unschön tremoliert, jault und bellt. Man erinnere sich nur an Hugh Beresford, der Ende der 1960er Jahre in Düsseldorf ein fabelhafter Germont war, dann aber nach dem Fachwechsel zum Tenor an seinem Bayreuther Tannhäuser von 1972 aus den oben genannten Gründen kläglich gescheitert ist. In den darauf folgenden Jahren wurde die Partie in Bayreuth von Hermin Esser und Spas Wenkoff gesungen, wobei sich letzterer mit der Rolle ebenfalls nicht ganz leicht tat, wie auf dem bei dem Label Deutsche Grammophon erschienenen DVD-Mitschnitt der Aufführung offenkundig wird.
 

Dieser Text erschien zuerst im Opernmagazin „Der Opernfreund“
Übernahme in die Musenblätter mit freundlicher Genehmigung.
Lesen Sie am kommenden Dienstag an dieser Stelle weiter!