L‘Aquila - 6. April 2013

Vier Jahre nach dem Erdbeben in den Abruzzen

von Angelika Zöllner

Das zerstörte Castelnuovo, heute - Foto © Angelika Zöllner
L‘Aquila - 6. April 2013.
 
Vier Jahre sind zügig vergangen. Doch kaum hat sich etwas geändert nach dem folgenschweren Erdbeben 2009, nachts um 03.32 Uhr in den Abruzzen. Zweimal sind wir anschließend dort gewesen, vergleichen Häuser- und Trümmeransichten, unsere Fotos, sprechen mit Überlebenden, Anwohnern, den Hütern wertvoller Gebäude und alter Kirchen. Manche sind Freunde mittlerweile. Bestätigen, das meiste bleibt, wie es war – die ‚zona rossa‘ von L‘Aquila, der Hauptstadt der Abruzzen, bleibt ein Ort, an deren Absperrungen Anwohner ihr Leid auf Papieren anheften und die sie bis heute nicht betreten dürfen. Kaum wird sie, obgleich in zentraler Stadtmitte, zu ihrem Ärger im Fernsehen gezeigt. Ebenso wenig die weiterhin schweigenden, unbelebten Häuserviertel. 80 % der Häuser, lesen wir in einer ortsansässigen Zeitung, seien nicht einmal auf ihre noch gültige Statik überprüft. Norditaliener, die ich über ein Fotoforum kenne, schreiben mir erschüttert, daß solche Bilder wie die meinen im Fernsehen nicht mehr gezeigt würden. Gutgläubig sei man davon ausgegangen, daß viele Rekonstruktionen erfolgt seien. Offensichtlich hätten ärmere Menschen aus den Dörfern, den Hirtenlandschaften der Abruzzen, landesweit kaum eine ‚Lobby‘.
 
Für die notwendigen Rekonstruktionen und Restaurationen fehlt das Geld - wird auch 2013 erklärt, noch immer. Dorf- und Stadtbewohner sprechen uns an. Sie hätten Angst. Viele betreten noch Wohnungen, in die sie eigentlich nicht mehr dürfen oder handeln um einen 10-Minutenzugang in Bewachtes, Abgesperrtes, um die eine oder andere kleine Habe zu retten. Orte wie Assisi, sagen sie zornig, wurden nach dem verheerenden Erdbeben (1997) mit immensen Staats- und Kirchenmitteln wieder aufgebaut. Die berühmte Basilica San Francesco erstrahlt wieder, dank zeitgenössischer Computertechnik sorgfältig und mit enormem Aufwand restauriert. Wir haben uns beeindruckt vor Ort überzeugen können. – Collemaggio hingegen, Basilika der Santa Maria in L‘Aquila - immerhin Wahrzeichen der Hauptstadt der Abruzzen – befindet sich im gleichen desolaten Zustand wie vor zwei Jahren. Innenmauern der Kirche aus dem 13. Jahrhundert werden noch immer von mächtigen Gerüsten festgehalten; lediglich auf einer der abgebrochenen Säulen liegt neuerdings ein Heiliger aus Stein zum Bestaunen.
 

    L'Aquila - Rote Zone - Foto © Angelika Zöllner

Im Dorf Castelnuovo haben wir wochenlange Wohnwagen-Ferien verbracht. Die Menschen dort nennen uns mittlerweile ‚amici‘. Der wunderhübsche Ort, man ahnt es noch, wurde zu 95 % zerstört. Nachzulesen noch in der abruzzesischen, nicht der deutschen Zeitung. Ebenso zerstört wie das häßlichere Onna, nur Kilometer entfernt, das häufig im deutschen TV gezeigt wurde. Vielleicht, weil Onnas Anwohner die Vorwarnungen, die Leichtbeben mißachteten und sich nachts wieder in ihre Häuser zurückschlichen. Vielleicht auch, weil Frau Merkel und schließlich sogar Signore Berlusconi dorthin reisten. Berlusconi, der anfangs locker von einem ‚Camping-Wochenende‘ gesprochen hatte. Das Campen der Anwohner auf ‚unserer Dorfwiese‘ hat schließlich sieben Monate gedauert. Ca. 300 Personen ohne Obdach, Menschen, die sich in Armut und Hitze im Sommer stritten. Der Regierungschef erschien hier ebenso wenig wie andere Politiker aus Rom. Die großen Blauzelte schauen noch immer stumm aus Fotos an Wänden. Bei einer Demonstration von L’Aquilanern in Rom, erzählt man flüsternd, habe die Polizei in die Menge geschlagen. Und dies, obwohl sogar der Bürgermeister dabei war. Das Erdbeben wurde anfangs mit 6,4 bewertet (entsprechende Berichte, die auch wir gelesen haben, scheinen überwiegend aus dem World Wide Web verschwunden). Bald wurde es auf 5,8 zurückgestuft. Der Versicherungen wegen, sagen die Abruzzesen wütend.
Unser (männlicher) Vermieter heißt Gabriele. Freiwillig hat er diese 300 Menschen auf seiner Wiese beherbergt. Die meisten seiner Familienmitglieder haben ihre Häuser verloren. Seit 2009 leben sie provisorisch in den hingestellten Fertig- Holzhäusern der Regierung. Im Sommer ist es in der Hitze kaum auszuhalten. Mittags fährt man zu einem verschwiegenen kühlen See, den es auf keiner

Onna, die Ersatzhäuser - Foto © Angelika Zöllner
Landkarte gibt. Im Winter reist man lieber nach Mailand oder in andere Orte, wenn man dort noch Verwandte oder – im Einzelfall - sogar eine Wohnung hat. Abschließen mit landesüblichen Sicherheitsvorkehrungen ist bei den Holzhäusern nicht möglich; Diebe und Plünderer werden gefürchtet.- Gabriele, vom handwerklichen Arbeiten unter freiem Himmel kräftig und braungebrannt, ist 58 Jahre alt. Das dichte, graue Haar trägt er praktisch in einem Schopf zusammengebunden. Ein wahrer Erzengel scheint er für viele zu sein, obgleich er kaum die Kirche besucht. Die Nähe zum Vatikan – ca. eine Autostunde entfernt – hat eines Tages mächtig sein Weltbild erschüttert. Da war er extra nach Rom angereist, um sich eine Statuette zu kaufen – von seinem Namenspatron, dem Verkündigungsengel. Meist kennt man diesen ja nur gemalt. Er wanderte von Shop zu Shop, um sich schließlich im Vatikan zu erkundigen: „Gibt es keine Statuette von Gabriel? Nur vom Drachenkämpfer? Dem Michael?...“ Einer der Frommen soll ihn gütig angesehen haben. Schließlich erklärte man ihm zur Lage: „Gabriel ist später ja auch dem Mohammed erschienen….“
So geschah es demnach, daß der Erzengel Gabriel aus der Mode kam. Aber der besondere Brunnen in L’Aquila besitzt 99 Mäuler, die einmal Wasser spuckten – 99 ist auch eine heilige Zahl im Islam, erklärt Gabriele zähneknirschend und streicht sich eine vorwitzige Haarsträhne zurück. Rom und die Abruzzesen mögen sich nicht wirklich, warum auch immer. „Dabei gilt der Verkündigungsengel mit einem Sanctuarium sogar als Heiliger der Abruzzen…“
 
Auch der alte Bruno, Gabrieles Vater, hatte mit 83 Jahren flexibel zu lernen, sich eng in einer Holzhütte einzurichten. Seine Frau, krank und ein bißchen dement, wird liebevoll von ihm behütet. 61 Langjahre ist er schließlich verheiratet. Stolz erzählt er uns vom Bergbau – als er und seine Frau neun Jahre in Belgien lebten - seine ‚Madame‘ mit dem Direktor und dem ersten Ingenieur tanzte - sie für alle wohlschmeckende Pizza buk, die damals noch kaum einer kannte. Bruno nimmt uns an einem Tag im Auto mit, das er noch selbständig lenkt. Über 30 Kilometer nach L‘Aquila, um Geld bei der Bank abzuheben. Auf einem Hügel prangen wieder Berlusconi-Häuser. Dort wohnt und praktiziert der ‚dottore‘ in Holzwänden in gewohnter Weise. Auf dem Rückweg biegen wir in einen schmalen, unbefestigten Weg ab – wie ein Müllplatz, denken wir. Was mag Bruno dort abgeben – oder holen? Nein, der Alte führt uns in eine Kleinstbude - sein ganz spezielles Lebensmittelgeschäft. Dort gibt es die besten Salsiccia ( Wurst) von L’Aquila, sagt er und zeigt uns vorzügliche Käsesorten. Bewaffnet mit viel zu viel Wurst und verschiedenem Pecorini (Schafskäse) aus dem nahen Gebirge machen wir uns auf den Heimweg. Nie hätten wir als Touristen diesen Laden gefunden.


L'Aquila - Foto © Angelika Zöllner

In L‘Aquila gibt es Neuerungen am Domplatz. Holzbuden ermöglichen, daß das Leben weitergeht. Häkelarbeiten verzieren Wände und erinnern an die Alte, über Neunzigjährige, die mit Häkeln das Erdbeben überlebte. Häkeln scheint zum Motto geworden. Dieses Jahr steigen zum Jahrestag 309 Luftballons in die Luft für die Opfer von L‘Aquila, darunter viele junge Menschen aus einem Studentenheim. Ob wenigstens die ‚palloncini (Luftballons) vom Staat finanziert wurden…
 
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Redaktion: Frank Becker