Winter

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Winter
 
Als ich die Augen öffne, sehe ich das Schneetreiben vor dem Fenster. Lässig segeln wässerige Flocken durcheinander, fallen und schmelzen. Das ist schön, denn es erweckt das Gefühl von Dauerhaftigkeit und Ruhe.
 
Langsam steige ich aus dem Bett. Ich wäre schon früher aufgestanden, aber ich lag da in der Überzeugung, ich sei längst auf. Es war also nicht meine Schuld.
 
Im Wohnzimmer sitzt die Tochter und sagt, sie sei immer noch erkältet. Sie zögert aber, zum Arzt zu gehen, denn sie weiß nicht, ob sie dann überzeugend husten kann, und wie steht sie dann da?
 
Auf dem Parkplatz wischt der Nachbar seine Autoscheiben frei. Er berichtet, daß es zur Zeit in Hattingen und am Baldeney-See viel stürmischer zugehe als hier bei uns. Das liege daran, daß die Landschaft dort einen Kessel bilde. Ich werde das nicht überprüfen, denn vielleicht stürmt es schon nicht mehr, wenn ich in Hattingen ankomme.
Beim Gedanken an Husten fällt mir wider alle Absicht schon wieder Hamlets Monolog ein:
 
Zu wissen, daß ein Schlaf
das Herzweh und die tausend Stöße endet,
die unseres Fleisches Erbteil.
 
Ich werde dem allen die Stirn bieten und in der Bäckerei einen Kaffee trinken. Mein Auto nimmt klaglos die steile Auffahrt. Die freie Straße und das Schneetreiben liegen vor mir.
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl