Wo Camus heute keinen Kaffee mehr trinken würde

Touristenfalle Paris St. Germain

von Anne-Kathrin Reif

Das Café de Flore,
ehemals Literatentreffpunkt, heute Touristenfalle - Foto © akr

Wo Camus heute keinen Kaffee
mehr trinken würde
 
von Anne-Kathrin Reif
 
Paris, 3. Januar. Heute war ich im Café de Flore. Angeblich darf das ja bei einem Camus-Spaziergang in Paris nicht fehlen. Camus habe ich dort nicht getroffen. Darüber sollte man sich natürlich nicht sonderlich wundern, was hätte Camus auch zwischen einem Haufen lärmender Touristen verloren. Gewiß ging es auch bei so manchen existenzialistischen Debatten dort mal hoch her, aber beim heutigen Geräuschpegel läßt sich dort jedenfalls kein klarer Gedanke mehr fassen. Auch wenn die langmähnige junge Frau, die scheinbar unbeeindruckt von dem ganzen Trubel in einem dicken Buch liest und der korrekt gekleidete alte Herr, der konzentriert eine Wochenzeitung studiert, das Gegenteil vortäuschen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht vom Pariser Fremdenverkehrsamt engagiert wurden.
 
Statisten, die an längst vergangenen Zeiten erinnern, als Menschen noch ganz gewöhnlich stundenlang auf den roten Kunstlederbänken im Café de Flore saßen und Bücher lasen oder gar welche schrieben, und die jetzt bezahlt werden, um blauäugige Provinz-Touristen darüber hinwegzutäuschen, daß sie gerade in einer der größten Abzockfallen der Stadt festsitzen. Ich habe keine Ahnung, was Camus verdiente, als er 1940 im Alter von 26 Jahren von Algier nach Paris kam und seinen ersten Posten im Sekretariat von Gallimard antrat. Aber ich vermute stark, daß er mit der Rechnung unserer heutigen kleinen Kaffeepause im Flore einen guten Teil seiner monatlichen Auslagen bestritten hätte. Zu  meiner Entlastung kann ich sagen, daß ich erstens trotz zahlreicher Paris-Besuche zuvor noch nie im Café de Flore war, und zweitens auch nichts anderes erwartet hatte. Genau genommen war ich überhaupt nur dort, weil man manchmal ja auch gern seine Vorurteile bestätigt haben möchte. Insofern war der Besuch ein voller Erfolg, und meine Erwartungen wurden nicht nur bestätigt sondern noch ganz lässig übertroffen.
 

Die Rechnung dieses kleinen Gedecks vermutlich
ein Wochenlohn von Camus - Foto © akr
Die Portion Schwarztee für 6 Euro liegt zwar noch gerade im Paris üblichen Rahmen, aber eine kleines Tartlette au Citron für 9,50 Euro ist doch selbst in Paris schon recht ambitioniert. Getopt wird das freilich noch von einem einzelnen Schokoladen-Éclair für 12 Euro. Falls Sie also beabsichtigen, sich auch einmal in Paris auf die Spuren von Camus zu begeben: Machen Sie einen weiten Bogen ums Café de Flore (und ums Deux Magots gleich mit), das habe ich ja jetzt schon für Sie erledigt. Schauen Sie sich stattdessen lieber die wirklich hübsche Web-Seite des Flore an, wo man unter dem Button Histoire/History natürlich auch Sartre und Camus begegnet.
 
Der Vollständigkeit halber muß allerdings gesagt werden, daß diese Entwicklung auch schon zu Lebzeiten von Camus längst eingesetzt hatte. „Kaum hatte die Generation von Sartre und Camus ihr Territorium in Besitz genommen, wurde es ihnen auch schon streitig gemacht“, berichtet der Camus-Biograf Herbert Lottmann*). Zunächst kamen neugierige Journalisten und dann, spätestens nachdem France-Dimanche mit einer wöchentlichen Auflage von mehr als einer Million „diesem unscheinbaren Mann Sartre“ eine ganze illustrierte Seite gewidmet hatte, eine stetig wachsende Zahl von Schaulustigen sowie, auch damals schon, Touristen aus aller Welt. Sartre und die Beauvoir waren viel zu bekannt geworden, um ihre Bücher noch im Café schreiben zu können, und Camus hat das ohnehin nie getan, soviel ich weiß. Wie Camus, der „algerische Vetter vom Lande“ dennoch zunehmend in den Mittelpunkt der Szene in St. Germain rückte, beschreibt Herbert Lottmann sehr hübsch in seinem Buch „The left bank: Writers, Artists and Politics from Popular Front to the Cold War“, das insgesamt ein lebendiges Stimmungsbild des intellektuellen Paris der Nachkriegszeit zeichnet.
 
Meinen Spaziergang habe ich übrigens weitab von allen Camus-Empfehlungen fortgesetzt: Im XII. Arrondissement, zwischen Bastille und dem Place D´Aligre. Beim Gang durch die kleineren Querstraßen des Boulevard Faubourg St. Antoine findet man jene Mischung aus kleinen Handwerksbetrieben, den winzigen Läden der Einwanderer, alteingesessenen Bistros und szenigen Lokalen, die vielleicht noch am ehesten an das erinnert was St. Germain einmal war. Noch, wohlgemerkt, denn die ersten schick renovierten Hinterhöfe lassen erahnen, daß die Gentrifizierung auch hier nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.
 
*) Herbert Lottmann, Nachkrieg in Saint-Germain, in: Du, Heft Nr. 6/ Juni 1992, S. 22
 

 © 2013 Anne-Kathrin Reif - Übernahme aus „365 Tage Camus" mit freundlicher Erlaubnis