Spaziergang mit Oma

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Spaziergang mit Oma
 
Als ich am Mittag in die Wohnung trete, merke ich, daß sie menschenleer ist – nein, doch nicht! – Oma steht am Fenster und blickt in den grauen Herbstnachmittag hinaus.
Ehefrau und Töchter machen einen Gesundheitsmarsch. Sie wähnen Oma bei ihrem mehrstündigen Mittagsschlaf.
„Elisabeth, machst du keinen Mittagsschlaf?“
„Nein.“
„Aha.- Und du willst auch keinen machen?“
„Nein. Jetzt nicht.“
„Aha!“ Eine kleine Pause. „Und setzen willst du dich auch nicht?“
„Nein.“
„Ich meine, hier in den Sessel.“
„Eigentlich nicht.“
„Ich dachte, damit du nicht hinterrücks hinfällst, haha, wenn ich gleich weg bin.“
„Nein. Ich wollte an die Luft.“
„Aha. Mit dem Rollstuhl?“
„Nein. Zu Fuß.“
„Aha. Interessant. Ist das nicht zu mühsam für dich?“
„Nein.“
„Ich meine Schuhe anziehen, Jacke und so. Das macht doch sonst immer die Anna.“
„Das kriegen wir schon hin“, sagt Oma tapfer. Im Juni wird sie Hundertzwei.
 
Ich suche nacheinander drei Paar Schuhe im Flur zusammen, aber alle gehören ihr nicht. Ich rufe Tochter Anna an, die mit der ganzen Familie gerade um den Kemnader See marschiert. Ja, die Schuhe stünden da oder da, aber ich möge Oma um Himmelswillen zuhause halten, wer weiß, was passieren könne, und dann sei ich bestimmt nicht der Richtige …
 
Anna hat Omas Hartnäckigkeit unterschätzt. Nach einer Viertelstunde treten wir angekleidet vor die Haustüre, Oma von mir fest am Arm geführt.
 
„Sieh dir den klaren Herbsthimmel an“, sage ich. „Nur ein bißchen grau.“
Oma reckt ihre spitze Nase in den Himmel. „Man friert aber noch nicht. Da ist der Kondensstreifen von einem Flugzeug“.
„Richtig.“
 
Und dann schlurfen wir tapfer einige hundert Meter weit durch die Siedlung. Himmel, lass nix passieren, denke ich die ganze Zeit. Die schieben dann alles auf mich.
Der Rückweg geht leicht bergauf. Wir müssen einige Male verschnaufen, und ich merke, daß Oma nicht mehr lange durchhalten wird.
Aber wir erreichen das Haus. „Zieh den Schlüssel aber wieder ab“, sagt sie.
Ich nehme ihren Mantel, sie läßt die Wollmütze auf den Boden fallen und streift die Schuhe ab, und dann setzt sie sich auf den Bettrand. Sie kann vor Kurzatmigkeit nicht sprechen.
Aber nach und nach geht der Atem ruhiger. Sie läßt sich ins Bett sinken und zieht die Decke ans Kinn: „Leg du dich auch hin.“
„Ich hatte schon einen Mittagsschlaf.“
„Trotzdem“, sagt sie hartnäckig. "Los, leg dich hin.“
„Weißt du was, Oma? Ich setze mich hier ans Bettende und ruhe mich ein wenig aus.“
„Wenn es unbedingt sein muß“, sagt sie.
 
 
 
© 2012 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern