Und noch einmal: Matera!

Ein Reisebericht aus der Basilicata

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Und noch einmal: Matera!
 
Matera im September 2012: unter einem wolkenlosen blauen Himmel mit strahlender Sonne die “Höhlenstadt” mit den zum Bergkamm kletternden Häusern, die sich um den mittelalterlichen Dom versammeln wollen. Auf den Straßen, Wegen und Steintreppen Reisegruppen mit Führern.
Seit meinem letzten Aufenthalt in Matera im Mai 2009 hat der Tourismus stark zugenommen. Mein Freund Aldo erzählt von Kanadiern und Brasilianern. Die reiselustigen Japaner und Amerikaner haben Matera schon seit einiger Zeit für sich entdeckt, und Italiener, Holländer und Deutsche gehörten von Anfang an, d.h. seit der Nobilitierung durch die UNESCO zum “Weltkulturerbe” im Jahr 1993 zu den Besuchern der Stadt. Erfreulicherweise kommen nicht nur Reisegesellschaften im Bus, die auf der Erkundung der Regionen Apulien und Basilicata stundenweise Matera besichtigen, sondern auch Ehepaare und Freunde, die sich für einige Tage einmieten, um die fazinierende Welt der Sassi näher kennenzulernen.
 
Errungenschaften für den Tourismus...

In Matera trägt man diesem Zugewinn Rechnung. “Bed and Breakfast” allenthalben, neue Hotels, pittoreske Cafés und Restaurants mit Tischen in Höfen, auf Plätzen und in geräumigen Grotten. Eine kleine Touristen-Eisenbahn fährt von der zentralen Piazza Vittorio Veneto quer durch die alte Stadt hinab in die Sassi bis zur Piazza S. Pietro Caveoso. Zur weiteren Erleichterung gehunwilliger Touristen wird in der Via delle Beccherie in der Nähe des Stadtzentrums ein Fahrstuhlschacht in den Felsen getrieben und damit ein Zugang zur bequemen Via Fiorentini geschaffen, die den Sasso Barisano durchzieht und einen gemütlichen Spaziergang auf der unteren Ebene mit vielen interessanten Winkeln erlaubt.
Hier kann man z.B. das Museum mit dem Sassi-Reich en miniature des Bildhauers Eustachio Rizzi oder das inzwischen gut ausgeschilderte Museum der bäuerlichen Kultur, des alten Handwerks und der Welt der Sassi-Bewohner um 1900 von Donato Cascione bewundern. Zwischen beiden Besichtigungsstätten lädt das Sax Café mit seinem geräumigen Hof und seinem herrlichen Ausblick auf alte Bauten, gekrönt vom Dom, zur Rast ein. Es gibt nicht nur Getränke, sondern auch einen herzhafen Imbiß mit Salaten und duftenden “Bruschette” (geröstetes Brot mit Tomaten, Käse, Schinken usw.)
 
Etwas oberhalb dieser Gebäude – jedes für sich ist sehenswert! – hat man bei der Kirche San Pietro Barisano die “Casa Cava” geschaffen. Wie so oft ist man in die Bergflanke vorgestoßen und hat ein geräumiges Höhlensystem mit einem Theater (Bühne und Zuschauerraum) von imposanter Größe eingerichtet und ausgestattet. Auch der Kirchplatz eignet sich für Vorstellungen und wird entsprechend genutzt.
Das sind Entwicklungen, die Anerkennung verdienen. Verschmerzen muß man, daß einige malerische Winkel im Sasso Caveoso, darunter eine hochragende Fassadenruine mit nebenstehendem verfallenem Kuppelbau, verschwunden sind. Sie waren wohl nicht mehr vor dem Einsturz zu bewahren. Andere ehrwürdige Bauten werden “stabilisiert”, was ihrer Erscheinung nicht gut tut, aber nach Meinung von Fachleuten unumgänglich ist. Der Charme des Verfalls ist zeitlich begrenzt …
 
...aber auch Ärgernisse

Ärgerlich hingegen sind andere Begleitumstände der neuen Stadtentwicklung. Überall in den Sassi, soweit nicht Steinschwellen, Treppen und Mauern ein Hindernis bilden, versuchen Personenkraftwagen zu parken, zu wenden oder ein Plätzchen mit guter Aussicht zu erreichen. Das stört und stinkt und nervt. Stellplätze für Anwohner und Geschäftsinhaber gibt es nicht. Ein schwerwiegendes Versäumnis der Stadt!
Auch scheint es keine polizeilich geschützte Ruhezeit in den Sassi zu geben. Bis in die frühen Morgenstunden gröhlen “Nachtschwärmer” in Höhlen-Lokalen an der Via Fiorentini im Sasso Barisano und bringen Anwohner und Gäste zur Verzweiflung. Proteste bei Behörden haben nichts genützt. Achselzuckend sagen mir resignierende Bürger: “Der Sindaco (Bürgermeister) kennt Matera nicht. Er stammt aus Fernandina (Basilicata).”
 
Wunderbare Museen

In Matera gibt es wunderbare Museen. An erster Stelle nenne ich das Museum im Palazzo Lanfranchi für die Kunst des Mittelalters und der Moderne, das eine Sammlung von großartigen Werken des Malers und Schriftstellers Carlo Levi (1902-1975) zeigt (man möchte einige Gemälde aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts neben Bildern von Max Beckmann und Otto Dix sehen!) und über hervorragende Skulpturen aus der Kunst des Mittelalters verfügt (z.B. über eine hinreißend schöne Verkündigungsszene).
Dann – nur einen Steinwurf entfernt – das archäologische Museum “Domenico Ridola” mit seinen reichen Ausgrabungsschätzen. Beide Museen sind vom Staat geadelte “Nationalmuseen”, und beide liegen für Touristen, ob sie nun vom Busparkplatz am Castello Tramontano starten oder sich auf der Piazza Vittorio Veneto sammeln, günstig und sind in wenigen Gehminuten erreichbar.
Das dritte bedeutende Museum, das erst seit wenigen Jahren besteht und im Palazzo Pomarici eine herrliche Bleibe gefunden hat, ist “MUSMA”, das Museum für zeitgenössische Skulptur. Es verlangt von den Touristen allerdings eine maßvolle Kletterleistung, da es im Sasso Caveoso am Hang liegt. Träger ist eine “Fondazione Zétema”, eine Stiftung, die auch eine besondere Sehenswürdigkeit außerhalb der Stadt betreut.


Matera mit dem Dom © Joachim Klinger
 
Es handelt sich um die “Cripta del Peccato Originale”, um einen unterirdischen Sakralraum, ca. 10 km von der Stadt entfernt, dessen Wandmalereien den Sündenfall von Adam und Eva im Paradies (Erbsünde) ins Zentrum setzen, aber auch die Erschaffung der Welt – Teilung von Licht und Finsternis – sowie des Menschen, Versuchung durch die Schlange, Vertreibung aus dem Paradies sichtbar machen. Hinzu kommen Bilder der Apostel, der Erzengel und eine Darstellung der Verehrung der Jungfrau mit dem Kind.
Die Grotte, auf dem Gelände des Weingutes Dragone gelegen und Ende des vorigen Jahrhunderts von einem Schäfer entdeckt, wird von Experten als das älteste Zeugnis der süditalienischen Höhlenkunst gewürdigt. Wegen der außerordentlichen Schönheit der Wandmalerei nennt man die Grotte auch eine “Cappella Sistina”. Die Stiftung Zétema hat dafür gesorgt, daß die Decke des Gewölbes von außen stabilisiert wurde. Das Eindringen von Regenwasser wird so verhindert. Dank des “supporto audio” im besten Deutsch mit fachkundiger Beschreibung der einzelnen Wandbilder wird der Besuch der “Cripta del Peccato Originale” zu einem unvergeßlichen Erlebnis. Die Bilder mit dem gemalten reichen Blumenschmuck begleiten den Besucher noch lange.
 
Krypten, Grotten, Höhlenkirchen

In Matera weiß man seit Jahren, daß es in der Umgegend eine große Zahl von Krypten, Höhlenkirchen, Grotten mit Wandmalereien, Grabgewölben etc. gibt. Im Zusammenhang erschlossen werden soll das durch Wanderwege. Diese sind kartenmäßig in einem übersichtlichen Areal erfaßt, das den Namen “Parco della Murgia Materana” trägt und von einer Agentur betreut wird, die sich “Agenzia di Promozione Territoriale di Basilicata” nennt. An den beiden Adressen erkennt man unschwer, daß Träger die Provinzen Matera und Potenza sind, deren Fortbestehen im Zeichen der geplanten Gebietsreform allerdings nicht gesichtert ist.
Jedenfalls hat die Provinzverwaltung in Matera seit Jahren ein beachtliches kulturpolitisches Profil entwickelt. Aus dem “Palazzo della Provincia” kamen mehr kulturelle Anstöße als aus dem Regierungsgebäude (Prefettura oder Palazzo del Governo) und dem Rathaus (Palazzo Municipale). Auch während meines Aufenthaltes im September hatte die Provinz mit ihrer Kulturdezernentin Marta Ragozzino “die Nase vorn”. Innerhalb von drei Wochen zwei Einladungen zu sehenswerten Ausstellungen (Skulpturen im Grottenbereich der Madonna delle Virtùe e S. Nicola dei Greci, fotografische Werke des 70-jährigen Künstlers Mario Cresci im Palazzo Lanfranchi).
 
Man spürt, daß Basilicata etwas aus sich machen will. Die schon erwähnte Agentur mit Sitz in Potenza und Matera hat einen “Kalender 2012” herausgebracht, der die kulturellen Ereignisse in der Region klar gegliedert im Zeitrahmen vorstellt und zur Besichtigung sehenswerter Orte, Bauten und Gedenkstätten einlädt. Natürlich fehlen nicht das Normannenschloß in Melfi und die Kathedrale von Acerenza, die Abtei San Michele in Montescaglioso und das “Castello del Malconsiglio” in Miglionico.
Aber auch Gedenkstätten für Dichterinnen / Dichter – Isabella Morra in Valsinni, Albino Pierro in Tursi, Leonardo Sinisgalli in Montemurro – werden präsent. Man lernt Volksfeste kennen, lebende Krippendarstellungen, Umzüge mit Heiligen-Figuren, Märkte mit landwirtschaftlichen Produkten usw. Auch ganz Kurioses ist dabei wie der “Weg der sieben Steine” mit märchenhaftem Geschehen (Castelmezzano und Pietrapertosa).
Eine bunte Mischung von Großartigem und Beliebigem, Tradition und modernem Erfindungsgeist. Aber die Bündelung vielfältiger Aktivitäten wird von Elan und Aufbruchsstimmung in der Region getragen.
 
Neue Konzepte müssen her

Gibt es in Matera noch die Aufbruchsstimmung, wie ich sie 1998 bei meinem ersten Besuch erlebt habe? Resultiert aus ihr der politische Wille, in den Wettbewerb um die Position einer Europäischen Kulturhauptstadt 2019 einzutreten?
Die Präsentation des Schönen und Bedeutenden, das man besitzt, genügt da nicht. Außerdem besteht die Gefahr, daß manche Kostbarkeit verspielt wird, wenn man das Umfeld nicht pflegt und die Entfaltung nicht fördert.
Es gilt also, ein attraktives Konzept zu entwickeln, das nach Inhalt und Form überzeugt. Das kreative Potential, das mit Phantasie und Energie an diese Aufgabe herangehen kann, gibt es in Matera. Ob es auch zum Zuge kommt? Ich hoffe es und wünsche es dieser wunderbaren Stadt!
 
Informationen: www.musma.it - www.zetema.org - www.comune.matera.it - www.provincia.matera.it


© 2012 Joachim Klinger  -  Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker