Rhein und wahr

Tagebuchnotizen

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Wie Glück entsteht
und die Last mit der Ordnung


1. September: Es gibt Autos, die ganz auf ihre Blinkfunktionen verzichten. Die Sondermodelle sind beliebt bei Sportfahrern, die das Risiko suchen.
 
3. September: Als der Bademeister herausbekam, daß Udo schwimmen konnte, durfte er sich nicht mehr im Nichtschwimmerbecken aufhalten. „Ordnung muß sein“, sagte der Bademeister. „Schwimmer könnten den Nichtschwimmern Angst machen.“
 
6. September: Es ist nicht immer das Großereignis, das den Menschen glücklich macht. Ich kenne Menschen, die glücklich sind, wenn sie nach dem Genuß des Kaffees die warme Tasse noch ein wenig in der Hand halten dürfen. Welche Umwege wir manchmal gehen müssen. Es ist vielen Menschen nicht klar, daß eine Tasse Wärme auch speichern kann. Sie ist nicht nur Form mit Inhalt. Sie ist lebendige Materie, die uns treu an ihre Funktionen erinnert. Sie erinnert an vergangene Genüsse. Ich trinke manchmal meine Kaffeetasse aus und gebe sie dann meiner Frau, die sich damit auf den Balkon zurückzieht, um sie in aller Ruhe in ihren Händen zu halten. Natürlich gibt es auch Menschen, die mit solchen Dingen überhaupt nichts anfangen können. Schade eigentlich. So entsteht doch Glück.
 
10. September: Wenn Gehbehinderte wandern, sieht das immer ein wenig lustig aus. Das muß aber die Stimmung nicht trüben. Im Gegenteil - wenn normale Wanderer wandern, sieht das auch immer lustig aus. Ich finde es sehr komisch, wenn Menschen Wanderkleidung tragen, dann aber nicht wandern, weil es regnet.
 
13. September: Er hatte sich wieder so sonderbar gefreut. Er hatte gedacht, daß er allein gewesen wäre und hatte sich dann vor Freude sonderbar geschüttelt, wie ein nasser Hund. Natürlich war dann doch jemand in der Nähe gewesen und hatte ihn bei diesem Freudenschüttler gesehen. Nun mußte er zu dieser Peinlichkeit stehen und das, obwohl ihm sein kleiner Tanz selbst peinlich vorgekommen wäre, wenn er sich dabei gesehen hätte. Was war passiert? Er war überdreht gewesen. Er hatte kurz die Kontrolle über sich sausen lassen. Man muß auch mal die Fassung verlieren dürfen, um daraus Kraft für die nachfolgende Form zu schöpfen. Das Himmelhochjauchzend war so gespeichert und  in sichere Häfen gebracht. Das würde ihn ein anderes Mal aufbauen. Nun mußte er diese spontane Peinlichkeit zu einer bewußten Performance ausbauen, die Anfang und Ende hat. Er mußte seinen Seelenstriptease aussehen lassen wie einen einmaligen Ausrutscher. Karneval ist ja auch alles erlaubt. Die Öffentlichkeit hatte ein Recht darauf, daß man ihre Handlungsweisen nicht in Frage stellte. Alle waren beruhigt, wenn man solche Formen des Auslebens so kontrolliert stattfinden ließ, daß die dann von allen gesehen werden konnten. Hier tobt sich nur jemand aus, der ansonsten hart arbeitet und seine Steuern zahlt. Das würde wieder anstrengend werden. Wer Verrücktheiten normal aussehen lassen muß, hat alle Hände voll zu tun.


© 2012 Erwin Grosche - Erstveröffentlichung in den Musenblättern