Bildbetrachtungen (1)

von Joachim Klinger
Bildbetrachtungen
 
Unsere Zeit ist eine bewegte Zeit. Wir selbst sind ständig in Bewegung. Kommt es uns besonders arg an, sprechen wir von Hektik. Ruhe im trauten Heim? Ach, sie ist längst dahin! Das Fernsehen ist in unser Privatleben eingedrungen. Bewegte Bilder leuchten auf, wenn wir uns die Hausschuhe anziehen. Gangster jagen durch das Wohnzimmer. Politiker versammeln sich schwatzend um uns,
wenn wir unser Abendbrot essen. Keine Muße, keine Stille! Wir möchten fliehen, wir träumen von einer friedlichen Zufluchtsstätte irgendwo. Vielleicht eine ferne Insel mit rauschenden Palmen, vielleicht eine stille Bibliothek mit raschelnden Buchseiten ....
 
Ich zeige Ihnen, meine Damen und Herren, einen anderen Fluchtweg. Er heißt „Bildbetrachtung“ und führt Sie in fremde Welten, die ruhig auf Sie warten und von Ihnen entdeckt werden wollen. Lassen Sie sich auf Bilder ein! Zum Beispiel könnten Sie in ein Museum gehen (nicht am Montag!) und einen Saal aufsuchen, der leer ist. Das gibt es noch. Irgendein Bild wird Ihre Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht deshalb, weil ein Wesen, halb Mensch, halb Ziege, auf einer Wiese herumspringt oder - ganz anders - weil Sie sich in einem Farben- und Formenwirrwarr nicht zurechtfinden können. Sie sagen kleinlaut, daß Sie einer Einführung bedürften, daß Sie von Kunst zu wenig verstünden? Das haben Ihnen Menschen eingeredet, die das Erklärungsmonopol beanspruchen, also Lehrer, Kunsthistoriker und andere Experten. Lassen Sie sich nicht irremachen. Sie haben doch Augen im Kopf, Sie suchen Ihre Krawatte selbst aus, bei der Auswahl der Möbelgarnitur hat der Verkäufer Ihren Geschmack gelobt. Natürlich können Sie in Büchern nachlesen. Aber es gibt so viele Künstler und Kunstrichtungen, Stilepochen und Maltechniken. Bedenken Sie schließlich, daß es um Jahrhunderte, Jahrtausende geht, und überlassen Sie die Kunstgeschichte den Gelehrten. Entwickeln Sie Ihren individuellen Umgang mit Kunst. Hierfür einige Ratschläge:
 
1. Gehen Sie nahe ans Bild heran. Versenken Sie sich bei großen Gemälden ins Detail bzw. in die Struktur. Kleine Bilder nehmen Sie am besten in die Hand, wenn es erlaubt ist. Museen gestatten derartige Annäherungen nie, Galerien eher selten, Künstler fast immer. Merke: Nähe macht vertraut.
2. Sprechen Sie zum Bild, und es wird zu Ihnen sprechen. Loben Sie ganz locker ein „wundervolles Blau“ oder eine „kühne Linie“. Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, stellen Sie eine schlichte Frage, z.B. „Was mag der Wanderer in der Landschaft empfinden?“ Meiden Sie die Erklärer, die sich im Zweifel rasch und eilfertig einfinden werden. In Museen wird man Ihnen Wissen aufzudrängen suchen, in Galerien Urteile und in Ateliers Lebensphilosophien. Nein, warten Sie darauf, was die Bilder sagen. Sie werden auf Farbabstufungen und Farbkontraste, auf Linienspiele und Strichführung hinweisen. Oder sie fragen: „Was empfindest Du denn selbst?“ Dann ist der Betrachter
gefordert.
3. Blicken Sie freundlich; denn Freundlichkeit bewährt sich im Umgang und ist die Grundvoraussetzung für eine beglückende Begegnung. Beobachten Sie andere Bildbetrachter. Unverständnis tarnt sich mit Überlegenheit; Dummheit blickt mit dumpfem Groll oder blankem Hohn. Aber Sie werden auch Zartgefühl und beseelte Aufmerksamkeit entdecken. Solche Menschen schließen die Augen wie Feinschmecker beim Genuß eines köstlichen Leckerbissens, schnalzen mit der Zunge wie Kenner alter Weine oder lassen dem halbgeöffneten Mund leise Seufzer entschlüpfen wie Liebende.
 
So, und nun machen Sie sich auf den Weg. Noch eines: seien Sie geduldig! Lassen Sie sich nicht durch Enttäuschungen entmutigen. Lächeln Sie. Damit Ihnen das besser gelingt, betrachten Sie die folgenden Bilder über Bildbetrachtungen...


© Joachim Klinger


Schauen Sie in den nächsten Wochen jeweils am Donnerstag
wieder einem Kunstfreund über die Schulter
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