"Kindheiten" - Sempé wird heute 80

Ein Glückwunsch und ein Dankeschön

von Frank Becker
Der Philanthrop mit dem Zeichenstift
Jean-Jacques Sempé wird heute 80


© Diogenes

Jean-Jacques Sempé ist ein Beschenkter - was uns, seine Freunde und Verehrer, Leser und Liebhaber seiner Kunst selbst zu Beschenkten macht. Nun hat er Geburtstag, einen runden, einen sehr runden, notabene. Sempé wird heute 80 Jahre alt. Anlaß genug für den Diogenes Verlag, dem liebenswerten Zeichner und Philanthropen einen opulenten Bildband mit einem wundervollen Interview, geführt von Marc Lecarpentier zu widmen: „Kindheiten“. Dieses eine Wort trifft wie ein wohlgezielter Pfeil mitten ins Herz von Sempés Arbeit vieler Jahrzehnte, für die das prächtige Buch eine Art Chronik darstellt – zeigt es doch in delikater Auswahl Illustrationen aus mehr als 50 Jahren. Als ein weiterer Glücks-Umstand erweist sich, daß Patrick Süskind den Text des Gesprächs, das ja eigentlich die Autobiographie Sempés ist, ins Deutsche übertragen hat. Diese beiden Männer sind, wie wir aus etlichen Diogenes-Publikationen wissen, Seelenfreunde. Die Poesie von Sempés Zeichnungen findet sich in vielen Texten Süskinds wieder. Nicht ohne Grund hat der Zürcher Verlag die beiden etliche Male (s.u.) zusammengebracht.
 
Nun also die „Kindheiten“. Die gehen bei Sempé weit über das von immer neuen Wundern erfüllte

© Sempé
Abenteuer der eigentlichen Kindheit hinaus. Denn seine liebevollen Beobachtungen der kleinen Helden des Alltags stehen nicht nur denen der Erwachsenen gleichberechtigt gegenüber – Sempé läßt nie einen Zweifel daran, daß die Großen nichts anderes sind als älter gewordene Kinder. Sie wissen es zwar üblicherweise geschickt zu verbergen, doch in den gewissen Augenblicken, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, werfen sie die Zwangsjacke des Erwachsenseins ab – und genau da erwischt sie Sempé präzise und gutmütig mit dem Zeichenstift. Gänzlich frei von Häme oder Schadenfreude rückt er mit feinem Humor auch das Kind im Manne in den Blick, so z.B. beim

© Sempé
Balancieren auf dem Bordstein oder beim übermütigen Luftsprung am Strand. Seine eigene Kindheit, erfahren wir, war beileibe nicht die Vorlage für die auch ein Gutteil Wehmut transportierenden Bilder, in denen er eine glückliche Welt zeigt, welche Heimat von Menschen mit Herz ist. So zumindest wünscht er sie sich, wünschen wir sie uns. Sempé berührt und benötigt dafür keine „lauten“ Bilder. Es genügt, einen Jungen hinter einem Fenster zu sehen, der glücklich lächelnd zuschaut wie es schneit oder ein kleines Mädchen, das mit verzücktem Blick einen soeben erhaltenen Brief liest. Das macht auch den Betrachter glücklich. Zumal Sempé Situationen aufzeichnet, die jeder aus der eigenen Kindheit kennt: das Baden im Meer, die Ferienlektüre, oben auf einem Heuwagen sitzen, auf einen Blaum klettern, auf Abenteuerpfaden durchs hohe Gras pflügen, Wandertage, Turnversuche, Musik- und Ballettstunde, Freundesbünde und Angst vor dem eigenen Schatten.
 

© Sempé
Jean-Jacques Sempé, am 17. August 1932 in Bordeaux geboren, hat die Fähigkeit, mit einer einzigen Zeichnung ein ganzes menschliches Universum zu erfassen. Er mag die Menschen, ihre kleinen, mitunter skurrilen Eigenarten und vor allem das Liebenswerte, das er überall zu finden weiß. Mit jeder seiner Zeichnungen wird das eins ums andere Mal deutlich. Und er schaut genau hin. Sein Blick ist aufmerksam, sehr liebevoll und höchst subtil den Details zugetan, welche seine Figuren in ihren alltäglichen oder kuriosen Lebenssituationen charakterisieren.
Für große französische, englische und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften hat er gearbeitet, darunter „Marie-Claire“, „Punch“, „Paris Match“, „The New Yorker“ und „L´Express“. Im deutschen

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Sprachraum ist er besonders durch seine köstlichen Illustrationen der gemeinsam mit René Goscinny erdachten Reihe der Jugendbücher um den „Kleinen Nick“ (Petit Nicholas), durch die Zeichengeschichten von „Carlino Caramel“, durch eine Vielzahl von seit Jahrzehnten regelmäßig beim Zürcher Diogenes Verlag erscheinenden Sammel- und Themenbänden seiner Cartoons und die Gestaltung von Buchumschlägen und Buchillustrationen für den Diogenes Verlag bekannt geworden. Eine zugegeben nur winzige Auswahl können wir ihnen hier zeigen - das gesamte Œuvre Sempés würde Ausstellungshallen füllen, hat es ja auch schon getan, wie die Musenblätter hier  berichten konnten.

Etwa zur gleichen Zeit, als Sempé beginnt, seine unnachahmlichen Sujets zu zeichnen, schreibt Marcel Pagnol seine autobiographische Romantrilogie „Souvenirs d’enfance“ (Eine Kindheit in der Provence) und dreht Jacques Tati den Film „Les Vacances de Monsieur Hulot“ (Die Ferien des Monsieur Hulot). Die stille, verzauberte Romantik von Pagnols ländlichen Szenen und die liebenswerte Skurrilität der Charaktere und Strandszenen in Tatis grandiosem Film – wir finden sie auch bei Sempé. Wenn mich jemand fragen sollte, was wohl den

© Sempé
besonderen Charme Frankreichs am treffendsten skizziere, ich würde diese Drei nennen.
Was wir Jean-Jacques Sempé zu verdanken haben, ist dies ganz bestimmte Schmunzeln, das verstehende und unbedingt ansteckende Lächeln, das seine Zeichnungen verursachen. Gegenwehr ist unmöglich, denn Sempés leise Pointen sind unwiderstehlich. Auto- und Radfahrer, Beziehungskisten und streitende Ehepaare, Snobs und Mittelständler, Optimisten, Lebenskünstler und Traumtänzer, das „savoir vivre“ haben es ihm besonders angetan. Ein Mann, der an einer Blume riecht und ein anderer, der ihm dabei versonnen zuschaut, ein Redner, der zu einer riesigen Menschenmenge „im Vertrauen“ spricht, ganz persönliche Idyllen vor der grauen Kulisse des Molochs Großstadt (die es ihm eigenem Bekennen nach besonders angetan hat), der zufriedene Spaziergänger und immer wieder die Kinder, die in aller Unschuld ihre Spiele spielen - Themen, die Sempé immer wieder neu und genial aufgreift.

Einen meiner Lieblingscartoons von Jean-Jacques Sempé sehen sie hier links: Ein leerer, recht kleiner Bus mit einem Angebot von vielleicht einem Dutzend Sitzen steht auf einem großen Platz, am
hinteren Einstieg eine unabsehbare, noch zunehmende Menschenmenge. Im Bus ein Schaffner, der sich zum Fahrer hinüberbeugt und bekennt: „Emil, ich hab Schiß!“
„Nichts ist einfach“ oder „Alles wird komplizierter“ nennt er seine Bücher, in Folio-Bänden zeigt er die Schickeria der Côte d´Azur, die Sommerfrischler oder seine geliebten Fahrradfahrer. Seine Titelzeichnung zu „Rien n´est simple“ von 1962 ist mit heutigem Blick eine herrliche Hommage an den Deuxchevaux, der sich samt Insassen vor dem schimpfenden Flic zur Seite neigt. Nie würde ich Patrick Süskinds Buch „Die Geschichte von Herrn Sommer“ ohne Sempés Illustrationen oder Umschlag akzeptieren. Und ohne seine Umschlagzeichnungen hätten auch „Die letzte Liebe des Monsieur Armand“ von Francoise Dorner und Süskinds „Das Vermächtnis des Maître Mussard“ etwas verloren.

Wir verneigen uns mit Dank und Respekt vor dem Philanthropen mit dem Zeichenstift, wünschen ihm Glück und uns noch viele zauberhafte Bücher. 

 
Ich habe genau mitgezählt Ich habe sechs versohlt. Wer sind die beiden, die hier Theater spielen?
© Sempé

Jean-Jacques Sempé – „Kindheiten“
© 2012 Diogenes Verlag, 272 illustrierte Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, Fadenheftung
ISBN 978-3-257-02120-2
€ (D) 39.90 / (A) 41.10 - sFr 55.90
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch


© Sempé