Sempé 80!

Eine Verneigung

von Joachim Klinger

Jean-Jacques Sempé - © Joachim Klinger
Sempé 80!
 
Ja, es stimmt: dieser jungenhaft wirkende Mann wird 80 Jahre alt. Heute. Am 17. August 1932 wurde er in Bordeaux geboren. Angeblich wollte er Jazzmusiker werden und trieb Leistungssport. Bei einem Weinhändler in Paris soll er eine Anstellung gefunden haben. Aber er muß schon länger “gekritzelt” haben. Bereits als Neunzehnjähriger erhielt er für seine Zeichnungen den Prix Carrizey, einen Förderpreis für Nachwuchstalente. Das öffnete ihm die Türen zu großen Pariser Zeitungen und Zeitschriften, z.B. “Paris Match”, “L’Express”, “Marie Claire”, dann auch im Ausland, z.B. “Punch” und ab 1978 “der New Yorker”.
Der Diogenes Verlag Zürich nahm ihn unter Vertrag und veröffentlichte viele z.T. kleine und z.T. umfangreichere Bildbände. Sempé wurde bekannt, berühmt und beliebt, in Frankreich sowieso, bald in ganz Europa und darüber hinaus.
 
Ich liebe Jean Jacques Sempé! Seine Zeichnungen haben mir immer wieder Freude gemacht, kein flüchtiges Vergnügen, nein, eine dauerhaft wärmende Freude.
Wäre ich nicht Deutscher, ich möchte Franzose sein. Dreiβig Jahre lang habe ich meinen Jahresurlaub in der Loire-Landschaft verbracht und französische Freunde gewonnen. Meine freundschaftliche Nähe zu Frankreich und den Franzosen fördert das Verständnis für Sempés Zeichnungen, denn sie atmen französischen Geist und spiegeln die Mentalität der Franzosen wider.
 
Fast immer ist der gezeichnete Mann ein “petit bonhomme”, ein unauffälliger Bürger mit fortschreitender Stirnglatze und erkennbarem Übergewicht. Er ist Buchhalter, Finanzbeamter, Zahnarzt, betreibt ein Hutgeschäft oder einen Weinhandel. Er ist verheiratet, hat Kinder, ein Auto und reist im Urlaub aufs Land. Er führt ein ganz normales Leben, geht gern in sein Stammlokal und tauscht sich mit Altersgenossen aus, liebt kleine Geselligkeiten und natürlich gutes Essen mit einem Glas Wein.
Eben diesen unauffälligen Monsieur Martin oder Dupont betrachtet Sempé mit freundlicher Aufmerksamkeit und subtilem Einfühlungsvermögen. Selbstgenügsam und selbstzufrieden ist der “kleine Mann”, aber auch selbstbewußt. Man achte auf die Augenschlitze, die zusammengekniffenen Lider! Und auf dieses winzige Lächeln!
Listig-verschmitzt kann das Blinzeln sein. Es kann auch den Blick nach innen andeuten. Es mag besagen: Wenn Ihr wüßtet, was ich von mir weiß! Könntet Ihr erkennen, was in mir steckt!
 
Da geht es nicht nur um die Hausmusik, um die Planung einer “résidence secondaire” auf dem Lande, um Blumenzucht und malerische Talentversuche. O, es gibt geheime Potentiale, die in einem schlummern und die sich eines Tages entladen können. Gewaltige Wünsche, gigantische Träume und furchtbare Abgründe!
 
Sagt doch ein Biedermann:
 
              “Ich müßte mal einen großen Dichter kennenlernen.
                Der könnte von meiner Melancholie einiges profitieren.”
 
Ein anderer fragt seine Frau:
 
              “Gertrude, was hast du, was haben wir aus meiner animalischen    
                Natur gemacht?”
 
Und ein dritter bekennt:
 
              “Ich hätte gern die Erfahrung einer großen Liebe gemacht, einer           
                Liebe, die alles niederwalzt, selbst meine Garage.”
 
Lispelnde Lüftchen, die sich zum Orkan entwickeln können… Erinnern wir uns: mit dem Sturm auf die Bastille hat das französische Volk die Revolution ausgelöst! Wenn bretonische Bauern mit ihren Treckern auf Paris lossteuern, weiß der Präsident der Republik, daß seine Stunde geschlagen hat. Da kann kein Militäreinsatz mit Panzern helfen!
Aber, aber, der Franzose ist an sich friedfertig und um Harmonie bemüht. Er verfügt über Charme und Zartgefühl.
 
Welcher deutsche Mann würde beim Anblick einiger reifer Damen in geblümten Flatterkleidchen ausrufen:
           
              “Also wo zum Teufel halten sich nur im Winter all die reizenden  
                Frauen auf, die im Frühling zum Vorschein kommen!”
 
Monsieur Dupont spielt seiner bügelnden Frau etwas auf dem Saxophon vor. Monsieur Martin vetraut in seinem Stamm-Café einem Tischnachbarn an:
 
              “Meine große Befriedigung ist, daß ich im Herzen einer jeden Frau, die  
                ich kannte, ein wenig von mir selbst zurückgelassen habe.”
 
Poesie pur!
 
Der Geiger Antoine Beauchamps, der sogar kürzlich mit einem Solo-Auftritt brillierte, stoppt seinen Wagen vor einem weiten Feld und läßt einen gebeugten Landmann im Schein der untergehenden Sonne an einem Adagio seiner kostbaren Violine teilhaben. Was für ein wunderbares Zusammenspiel von Kunstsinn und Menschenliebe!
Und die Frauen? Es gibt die gertenschlanken jungen Dinger, aber überwiegend sind die Frauen bei Sempé rundliche Ehefrauen mit gepflegter Frisur, die sich um den Haushalt kümmern und auf den Gatten konzentrieren, nachdem die Kinder herangewachsen sind und sich selbständig gemacht haben. Sie sind ihrem Mann zugetan, trotz allem …
Mit einer rührenden Geste streicht die Hand der Frau über Monsieur Duponts gerunzelte Stirn. Der Partner scheint ihm beim Schachspiel überlegen zu sein. Und auch den Sinn für Romantik bewahren diese Frauen.
 
Monsieur Martin mit Baskenmütze schwingt sich auf sein Fahrrad und verläßt die Vorstadt, um zur Arbeitsstätte zu fahren. Madame Martin mit karierter Schürze sagt zur Nachbarin:
 
              “Er hat für mich immer den Reiz des Abschied nehmenden Mannes
               gehabt …”
 
Natürlich sind die Frauen den Männern überlegen. Das weiß auch Sempé. Er zeichnet ein etwa gleichgroßes Ehepaar so, daß die Dame den längeren Schatten wirft. –
Und sie kennen ihre Männer! Über ihren dahinstolzierenden, ziemlich mickrigen Mann bemerkt die Gattin zu ihrer Freundin nachsichtig lächelnd:
 
              “Wenn er sich mit dem lieben Gott vergleicht, da geht es noch; aber   
                wenn er sich für den Teufel hält, kann ich nur grinsen …”
 
Ein Wort zu den Kindern? Überflüssig! Mit dem Namen “Nick” ist alles gesagt …

Jean-Jacques Sempé - © Joachim Klinger
Jean-Jacques Sempé beobachtet seine Gestalten oft aus der Vogelperspektive, sozusagen von oben herab. Aber das schafft keine Distanz, sondern eine fast zärtliche Nähe zu dem kleinen Geschöpf, das sich im Gewühl behauptet, das unverdrossen weite Wege zurücklegt und unerschrocken den Cello-Kasten durch die Menge transportiert. Ja, der kleine Kerl, mit dem Fahrrad auf schier endloser Landstraße unterwegs, winkt einem Flugzeug zu, oder sucht er gar Kontakt zum “lieben Gott”? –
 
Zum Schluß noch eine Bemerkung zum Zeichenstil von Sempé. Er beherrscht die offene Form, und das belegt sein Können. Die Figuren sind oft “unfertig”, aber gleichzeitig vollendet.
Als jemand, der selbst seit früher Jugend zeichnet und das “Kritzeln” nicht lassen kann, verneige ich mich respektvoll vor diesem großen Künstler.
 
Félicitation, cher confrère!
Hoch sollen Sie leben!
 
Ich widme diesen Aufsatz meinem verstorbenen Freund Dieter B., der den Zeichner Sempé liebgewann und mir schrieb: “Der Mensch ist bei Sempé gut aufgehoben.”
 
Joachim Klinger, Berlin im August 2012
 
Sempé in den Müsenblättern