Im Jahr 20 des Falls der Berliner Mauer
Chemnitz – eine Industriestadt
zwischen kultureller Tradition und Moderne Auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und knapp zwei Jahrzehnte nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit verbindet der rheinisch-bergische Mensch mit dem Freistaat Sachsen in erster Linie den Namen des im barocken Glanz wiedererstrahlten Dresden mit der wundervollen „Sächsischen Schweiz“, eventuell fällt ihm noch das wirtschaftlich erstarkte Leipzig als Buch- und Messestadt und neuem Produktionsstandort von Porsche und BMW ein, und vielleicht denkt er auch, sollte es sich um einen Freund feiner mechanischer Uhren handeln, an das Städtchen Glashütte am Rande des Erzgebirges. Aber die alte Industriestadt Chemnitz, die 1953 mit SED-Ukas in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde und deren Bürgerschaft sich im April 1990 mit überwältigender Mehrheit – 76,14 % der
Das „sozialistische“ Karl-Marx-Stadt hatte zwar einen hohen Anteil an produzierendem Gewerbe, aber nur schwach ausgebaute Dienstleistungsbereiche. So traf das Wegbrechen des Maschinenbaus nach der politischen Wende Chemnitz besonders hart – die Arbeitslosigkeit lag über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer. Dazu kamen noch politische Unentschlossenheit, aber auch Ungereimtheiten in der Verwaltung und eine überforderte Kommunalpolitik in Fragen, wie es mit dem Stadtzentrum und der Wirtschaftsansiedlung weitergehen sollte. Die Landesregierung in Dresden, das kam erschwerend dazu, konzentrierte anfangs Mittel und Kräfte vorwiegend auf Dresden als Landeshauptstadt des Freistaates sowie auf Leipzig.
Und doch hat sich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wahrlich vieles zum Guten gewandelt. Der Maschinenbau ist wieder in Schwung gekommen, auch Dienstleistungsunternehmen haben sich angesiedelt, und die Technische Universität Chemnitz hat an Ausstrahlungskraft gewonnen. Die Kaufkraft der Chemnitzer Bevölkerung soll merklich über dem Niveau des Durchschnitts Sachsens liegen.
Die ältere Generation mag sich noch an die Anfang der dreißiger Jahre gegründete Auto-Union mit
Da die Industrieunternehmen sich oftmals unmittelbar zwischen den Wohngebieten angesiedelt hatten, galt das alte Chemnitz als ungesunde Stadt der qualmenden Schornsteine, in bestem
Die Stadt Chemnitz war zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren 320.000 Einwohnern nicht nur eines der meist prosperierenden Industriezentren im Deutschen Reich, sondern auch eine Stadt mit einer für damalige Verhältnisse beachtlichen Sozial-Hygiene, zum Beispiel in der Trinkwasserversorgung oder in der Krankenbetreuung. Gepflegte Parks und Grünanlagen gingen oftmals auf weitsichtige Unternehmer zurück, die als Mäzene für das Gemeinwohl auftraten. Hinsichtlich des Steueraufkommens gehörte Chemnitz vor dem 1. Weltkrieg zu den reichsten Städten Deutschlands.
Mögen die Industrietraditionen noch relativ bekannt sein - aber Chemnitz als Stadt der Künste und einer beachtlichen Baukultur, das klingt doch eher unglaubwürdig. Aber es ist an dem:
Die Kunstsammlungen Chemnitz im König-Albert-Museum verfügen heute nach dem Berliner Brückemuseum über den zweitgrößten Bestand an Werken des Expressionisten und Gründungsmitglieds der Künstlergruppe „Dresdener Brücke“ Karl Schmidt-Rottluff, der ein Sohn der Stadt ist. Den Grundstock zu dieser Sammlung legte bereits in den Zwanziger Jahren der verdienstvolle Sammlungsleiter Schreiber-Weigand. Allerdings konnten die Verluste, die die Expressionistensammlung durch die NS-Aktion „Entartete Kunst“ erlitten hatte, nie ganz wettgemacht werden - zum einen, weil zu SED-Zeiten der politische Wille fehlte (der in West-Berlin lebende und lehrende Expressionist Schmidt-Rottluff galt bei den Genossen als Unperson) und zum anderen, weil die DDR-Regierung für Zu- und Neukäufe keine Devisen zur Verfügung stellte. Die Grafische Sammlung verfügt gegenwärtig über einen Bestand von 25.000 Blättern - besonders Romantiker und Expressionisten wurden gesammelt.
Bereits 1914 erfolgte an der neuen Chemnitzer Oper - und eben nicht in Dresden oder Leipzig - die sächsische Uraufführung von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“. Unter der Intendanz von Richard Tauber sen., der das Neue Stadttheater als Einspartentheater „Oper“ ab 1918 führte,
Die Oper war im Krieg bis auf die Außenfassade zerstört worden, auch das Museum hatte schwer gelitten. Der Wiederaufbau der Oper begann bereits 1948, gegen den Widerstand der Regierenden in Ost-Berlin. Im Jahre 1951 konnte der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden. Von 1988 bis 1992 mußte das Haus von Grund auf saniert und restauriert werden. Das Opernhaus ist auch Heimstatt der Robert-Schumann-Philharmonie - ein Orchester der A-Klasse.
Dem verheerenden Bombenangriff der Alliierten vom 5. März 1945, bei dem die gesamte Innenstadt zerstört wurde, fiel auch das Renaissance-Rathaus aus dem 16. Jahrhundert zum Opfer. Wiederaufgebaut schließt es sich in weißer Fassade mit seinen Uhr- und Glockentürmen an den
Eines der markantesten Chemnitzer Bürogebäude aus den zwanziger Jahren - einst der
Im engeren City-Bereich von Chemnitz findet der Architektur-Interessierte noch einige herausragende Beispiele - so das ehemalige Kaufhaus Schocken (später HO-bzw. Centrum-Warenhaus), ein klassischer, halbrunder Bau mit den typischen parallelen Fensterbändern von Erich Mendelsohn aus den Zwanzigern. Das ist übrigens der letzte Kaufhausbau von Mendelsohn in Deutschland, nachdem schon vor etlichen Jahren das Gegenstück in Stuttgart weggesprengt wurde. Die Stadt Chemnitz baute das ehemalige Kaufhaus Tietz - zuletzt in Besitz der Kaufhof AG - zum „Kultur-Tietz“ um. Es beherbergt heute die Stadt-Bibliothek, die Neue Sächsische Galerie für zeitgenössische Kunst, das Naturkundemuseum und im Lichthof als besondere Attraktion den „Versteinerten Wald“, eine Sammlung verkieselter Hölzer (Riesen-Farne) des Unterrotliegenden, ca. 220 Millionen Jahre alt. Von architektonischem Wert sind auch die beiden jetzt noch genutzten Bankgebäude der Sparkasse und der Deutschen Bank, in den späten Zwanziger, frühen Dreißiger Jahren gebaut. Das heutige Stadtzentrum wird dominiert von dem städtebaulich gelungenen
Ein architektonisches Kleinod besonderer Art, sowohl als historisches Bauwerk als auch im Interieur, ist die Jugendstil-Villa Esche. Der zu Vermögen gekommene Strumpf-Fabrikant Esche ließ sich seine Villa vor dem 1. Weltkrieg von dem renommierten belgischen Jugendstilarchitekten und -künstler Henry van de Velde erbauen und einrichten. Nach 1945 wurde die von den Kommunisten enteignete Villa jahrelang von der Stasi genutzt, später von der Bezirkshandwerks-Kammer Karl-Marx-Stadt. In den Jahren nach der politischen Wende vorbildlich restauriert und z.T. mit Originalmöbeln der Familie Esche ausgestattet, wird die Villa für Konzerte genutzt und ist öffentlich zugängig.
Das Schloßberg-Museum mit seinem über 60.000 Objekte zählenden stadtgeschichtlichen Bestand besitzt eine bedeutende Sammlung sakraler Plastik von der Gotik bis zum Spätbarock - von Hans
Vom Schloßberg-Museum und von der Schloßkirche aus hat man über die Schloßteich-Parkanlage hinweg einen imposanten Blick über das alte und neuere Stadtzentrum von Chemnitz. Eine Stadt, die sich zwanzig Jahre nach dem freiheitlich-demokratischen Neuanfang nicht nur ihrer historischen Wurzeln und kulturellen Traditionen besonnen hat, sondern die nun auch in der kulturell-künstlerischen Moderne angekommen ist. Chemnitz - eine sächsische Industrie-Stadt, die dabei ist, sich endlich selbst zu finden.
Redaktion: Frank Becker |