Am 24. April 1915 begann in der Türkei der Völkermord an den Armeniern

Armin T. Wegners Offener Brief an den US-Präsidenten Woodrow Wilson

von Frank Becker

© Wallstein Verlag
Am 24. April 1915 begann in
der Türkei der Völkermord an
den Armeniern
 
Armin T. Wegners Offener Brief
an den US-Präsidenten Woodrow Wilson
 
Einer der engagiertesten und zugleich erschütterndsten Offenen Briefe der Geschichte wurde 1919 vom Schriftsteller Armin T. Wegner verfaßt, der 1915/16 als deutscher Sanitätssoldat in der Türkei Zeuge des von der türkischen Regierung geplanten und mehr als ein ganzes Jahr lang erbarmungslos mit höchster Brutalität vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgeführten Vökermordes an 1.500.000 christlichen Armeniern wurde. Bis heute leugnet die Türkei diesen Völkermord, stellt sogar dessen Erwähnung unter Strafe. Die deutsche Regierung knickt ebenso bis heute vor den türkischen Machthabern Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu ein, indem sie nicht auf der Anerkennung dieses Genozids als Grundbedingung für politische und wirtschaftliche Beziehungen besteht.

Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlages veröffentlichen wir hier in Erinnerung an das Leid der Armenier den erschütternden offenen Brief Armin T. Wegners Brief an den US-Präsidenten Woodrow Wilson über das Schicksal dieses Volkes, geschrieben im Jahr 1919:

" Herr Präsident!

Verschließen Sie Ihre Ohren nicht, weil ein Unbekannter zu Ihnen redet. In Ihrer Botschaft an den Kongreß vom 8. Januar des vergangenen Jahres haben Sie die Forderung der Befreiung aller nichttürkischen Völker des osmanischen Reiches aufgestellt. Zu diesen Völkern gehört ohne Zweifel auch das armenische. Diese Nation ist es, für die ich rede.
Als einer der wenigen Europäer, die ihren furchtbaren Untergang von seinem ersten Beginn in den blühenden Städten, auf den fruchtbaren Äckern Anatoliens bis zu der Vernichtung ihrer kläglichen Reste an den Ufern des Euphrats, in den Steinöden der mesopotamischen Wüste mit eigenen Augen erlebt habe, wage ich es, mir das Recht zuzuerkennen, dieser Bilder der Not und des Entsetzens vor Ihnen heraufzurufen, die fast durch zwei Jahre an meinen Blicken vorübergingen und die mich nie mehr verlassen werden. Ich tue dies in dem Augenblick, da die Ihnen verbündeten Regierungen sich rüsten, die Friedensverhandlungen in Paris zu beginnen, die über das Schicksal der Welt für viele Jahrzehnte entscheiden werden. Aber das armenische Volk ist nur ein geringes unter vielen; die Zukunft größerer und ruhmreicherer Staaten steht zur Verhandlung. Da liegt es nahe, daß die Bedeutung einer kleinen, so auf das äußerste geschwächten Nation von den gewaltsamen und selbstsüchtigen Zielen der großen europäischen Staaten zurückgedrängt oder beiseite geschoben wird, daß sich so für Armenien das gleiche Spiel der Nichtachtung und des Vergessens wiederholt, das ihm im Laufe der Geschichte so oft widerfuhr. Dies aber wäre auf das tiefste zu bedauern; denn keinem Volke der Erde ist je ein Unrecht geschehen wie dem armenischen. Es ist eine Frage des Christentums, es ist eine Frage der ganzen Menschheit.
Das armenische Volk als solches war nicht an diesem Feldzuge beteiligt, es war ihm nicht einmal die Möglichkeit gegeben, handelnd in ihn einzugreifen. Es war ein Opfer dieses Krieges. Als die türkische Regierung im Frühjahr 1915 an die Ausführung ihres unfaßbaren Planes ging, zwei Millionen Armenier vom Erdboden auszurotten, da waren die Hände ihrer europäischen Brüder Frankreichs, Englands und Deutschlands vom eigenen unseligen Blute feucht, das sie in der traurigen Blindheit ihres Mißverständnisses in Strömen vergossen, und niemand hinderte die finsteren Machthaber der Türkei, ihre qualvollen Folterungen zu beenden, deren Ausführung man in der Tat nur der Handlung eines wahnsinnigen Verbrechers vergleichen kann. So haben sie ein ganzes Volk, Männer, Frauen, Greise, Kinder, schwangere Mütter, unmündige Säuglinge in die arabische Wüste getrieben mit keiner anderen Absicht als der - sie verhungern zu lassen. 
In Europa gewöhnte man sich seit langem daran, Sibirien als eines der unwirtschaftlichsten Länder der Erde zu betrachten, in dem zu leben die härteste Strafe gilt. Und doch gibt es in diesem Lande noch fruchtbare Äcker, weht trotz der Kälte des Winters eine gesunde Luft. Was aber ist Sibirien gegen die mesopotamische Steppe? Ein Land breitet sich, ohne Gras, ohne Bäume, ohne Vieh, voll spärlichen Krauts, ohne Menschen, die auch nur den Schatten eines Mitleids haben, graue Ebenen voll Lehm auf viele Meilen, kahle Wüsten von Felsen und Stein, zerfallene Ufer, auf die die Glut einer unbarmherzigen Sonne herabfällt, endlose Regen im Herbst und die Kälte der Winternächte mit Frost und eisigem Reif. Abseits seiner zwei großen Flüsse gibt es kein Wasser. Die wenigen kleinen Dörfer reichen kaum aus, um eine Hand voll arabischer Beduinen zu nähren, die in ihrer kümmerlichen Armut jeden Fremden als ein willkommenes Wild betrachten. 
Aus ihren Wohnsitzen, die sie länger als zweitausend Jahre inne hatten, aus allen Teilen des Reiches, aus den steinernen Pässen des Hochgebirges bis an die Küsten der Marmara und den Palmenoasen des Südens, trieb man sie in diesen trostlosen Kesseln zusammen mit der Entschuldigung, die jedem menschlichen Empfinden den Hohn spricht, nichts zu tun, als ihnen andere Wohnsitze anzuweisen; metzelte die Scharen ihrer Männer in Massen nieder, stürzte sie mit Ketten und Seilen aneinandergefesselt in den Fluss, rollte sie mit gebundenen Gliedern die Berge hinab, verkaufte ihre Frauen und Kinder auf den öffentlichen Märkten oder hetzte Greise und Knaben unter tödlichen Bastonaden auf die Straße zur Zwangsarbeit. Nicht genug damit, seine verbrecherischen Hände so für alle Zeiten beschmutzt zu haben, jagte man das Volk, seiner Häupter und Wortführer beraubt aus den Städten, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht halb nackt aus den Betten, plünderte seine Häuser, verbrannte die Dörfer, zerstörte die Kirchen oder verwandelte sie in Moscheen, raubte sein Vieh, nahm ihnen Esel und Wagen, riß ihnen das Brot aus den Händen, die Kleider von den Gliedern, das Gold aus den Haaren und aus dem Mund.
Beamten, Offiziere, Soldaten, Hirten wetteiferten in ihrem wilden Delirium des Blutes, schleppten die zarten Gestalten der Waisenmädchen zu ihrem tierischen Vergnügen aus den Schulen, schlugen mit den Knüppeln auf hochschwangere Weiber oder Sterbende ein, die sich nicht weiter schleppten, bis die Frau auf der Landstraße niederkommt und verendet und der Staub sich unter ihr in einen blutigen Schlamm verwandelt.
Reisende, die die Straßen entlang fuhren, wandten ihre Augen entsetzt von diesen Wanderzügen teuflischer Grausamkeit, um in ihren Herbergen die neugeborenen Kinder in den Mist der Höfe gebettet zu finden und die Wege mit abgehackten Knabenhänden bedeckt, die sich flehentlich zu ihren Peinigern erhoben hatten. Karawanen, die bei ihrem Aufbruch in die Heimat Hocharmeniens mehrere Tausende von Körper umfaßten, zählten bei ihrer Ankunft an den Staatsgrenzen Aleppos nur noch wenige Hunderte, während die Felder mit angeschwollenen und schwarz gewordenen Leichen besät waren, die die Luft mit ihrem Geruch verpestend, geschändet, nackt und ihrer Kleider beraubt umherlagen oder Rücken an Rücken gefesselt den Euphrat hinabtrieben, den Fischen zum Fraß. Zuweilen streuten Gendarmen zum Hohn ein wenig Mehl in die abgezehrten Hände der Hungernden das sie begierig ableckten, und das nur die Wirkung hatte, ihren Tod hinauszuziehen. 
Aber auch vor den Toren Aleppos ließ man ihnen keine Ruhe, jagte aus unbegreiflichen Gründen des Krieges, die niemand verteidigen kann, ihre zusammengeschrumpften Horden mit bloßen Füßen unermüdlich über Hunderte von Meilen auf sonnendurchglühten Straßen, durch steinerne Schluchten, weglose Hügel, von Krankheit und Fieber geschüttelt, zu halbtropischen Sümpfen, in die Öde des Nichts. Hier starben sie, von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, erfroren, verdurstet, verhungert, verfault, von Schakalen angefressen.

Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in den Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie. Ich habe Wahnsinnige gesehen, die den Auswurf ihres Leibes als Speise aßen, Frauen die den Leib ihrer Neugeborenen kochten, Mädchen die die noch warme Leiche ihrer Mutter sezierten, um das aus Furcht vor den räuberischen Gendarmen verschluckte Gold aus den Därmen der Toten zu suchen. In zerfallenen Karawansereien lagen sie zwischen Haufen von Leichen und Halbverwesten teilnahmslos da und warteten auf den Tod; denn wie lange konnten sie ihr elendes Dasein damit fristen, sich Körner aus dem Mist der Pferde zu suchen oder Gras zu essen? Das alles aber ist nur ein Bruchteil von dem, was ich selbst gesehen habe, was Bekannte oder Reisende mir erzählten, oder was ich aus dem Munde der Vertriebenen selber vernahm.

Herr Präsident, wenn Sie jene furchtbaren Kataloge des Grauens durchblättern, die Lord Bryce in England, Johannes Lepsius in Deutschland über diese Ereignisse gesammelt haben, so werden Sie sehen, dass ich nicht übertreibe. Wenn ich aber annehmen darf, daß diese Bilder des Entsetzens, von denen alle Welt außer in Deutschland gehört hat, das man auf das schändlichste belog, sich bereits in Ihren Händen befinden, mit welchem Recht beschwöre gerade ich sie herauf?
Ich tue das mit dem Recht der menschlichen Gemeinschaft, mit der Pflicht eines heiligen Versprechens. Als ich in der Wüste durch die Flüchtlingslager der Vertriebenen ging, als ich in ihren Zelten mit den Hungernden und Sterbenden auf ihrer Matte saß, da fühlte ich ihre flehenden Hände in den meinen, da beschwor mich die Stimme ihrer Priester, die viele Hunderte von Toten auf ihrer letzten Reise in das Grab gesegnet hatten, für sie zu bitten, wenn ich wieder in Europa wäre. Aber das Land, in das ich heimkehrte, ist ein armes Land: Deutschland ist eine besiegte Nation. Mein eigenes Volk ist dem Hunger nahe. Elende und Arme bedecken die Straßen. Soll ich ein Volk, das vielleicht bald nicht in der Lage ist, sich selbst zu retten, um Hilfe bitten für ein noch ärmeres? Die Stimme des Gewissens und der Menschlichkeit wird niemals schweigen in mir, und darum spreche ich diese Worte zu Ihnen. Dieses Schreiben ist ein Vermächtnis. Es ist der Mund von tausend Toten, der aus mir redet.

Herr Präsident, das Unrecht dieses Volkes ist maßlos gewesen. Ich habe alles gelesen, was über diesen Krieg geschrieben wurde. Ich habe die Greuel aller Länder dieser Erde verfolgt, die furchtbaren Metzeleien aller Schlachten, die von den Torpedos zerrissenen Schiffe, die von den Flugzeugen auf die Städte herabgeworfenen Bomben, die abscheulichen Ermordungen in Belgien, das Leiden der französischen Flüchtlinge, die entsetzliche Not der verschleppten Deutschen und Gefangenen in Sibirien, die grauenvollen Krankheiten und Seuchen in Rumänien. Hier aber gilt es ein Unrecht wieder gutzumachen, wie es keines dieser Völker erlitt, nicht das französische, nicht das belgische, nicht das englische, nicht das russische, nicht das serbische, nicht das rumänische und auch nicht das deutsche, das doch so viel in diesem Kriege erdulden mußte. Nur die wilden Völker des Altertums haben vielleicht annährend ein ähnliches Schicksal ertragen. 
Hier aber handelte es sich um eine Nation von hoher Kultur, von reicher und ruhmvoller Vergangenheit, von unvergeßlichen Verdiensten um die Werke der Kunst, Literatur, Wissenschaft mit zahlreichen bedeutenden und geistvollen Männern voll tiefer Religion, voll erhabenem Priestertums, ein christliches Volk, dessen Anhänger über die ganze Erde zerstreut sind, von denen manche viele Jahre in ihrem Lande gelebt hatten, Herr Präsident, und die alle Sprachen der Erde kannten, dessen Frauen und Töchter wohl eher gewöhnt waren, in einem Schaukelstuhl vor einem reichlich gedeckten Tisch zu sitzen, als um ein Erdloch in der Wüste zu kauern, kluge Kaufleute, Ärzte, Gelehrte, Künstler, aufrechte und glückliche Bauern, die das Land fruchtbar machten, und deren einzige Schuld es war, wehrlos zu sein, eine andere Sprache zu sprechen, und als die Kinder eines anderen Glaubens geboren zu sein.

Jeder, der die Vorgänge dieses Krieges in Anatolien kennt, der das Schicksal dieser Nation mit offenen Augen verfolgt hat, weiß, daß alle jene Beschuldigungen, die man mit Weisheit und vieler Mühe gegen die armenische Rasse erhob, nichts sind als eine Abscheu erregende Verleumdung ihrer gewissenlosen Machthaber, die sie zum Schutze ihrer rasenden und brutalen Gewalt erfanden, die sich mit dem Geist der Wahrhaftigkeit und des Menschentums niemals vereinen lassen. Aber selbst wenn alle diese Vorwürfe auf Wahrheit beruhen sollten, würden sie niemals jene grauenhaften Taten rechtfertigen, die man gegen Hunderttausende Unschuldiger begangen hat. 
Ich klage nicht den Islam an; der Geist jeder großen Religion ist edel, und die Handlung manchen Mohammedaners hat uns die Augen vor den Taten Europas niederschlagen lassen. Ich klage nicht das einfache Volk dieses Landes an, dessen Seele von tiefer Sittlichkeit erfüllt ist; aber ich glaube nicht, daß die Kreise seiner führenden Herrenkaste jemals im Laufe der Geschichte fähig sein werden, es glücklich zu machen, nachdem sie unseren Glauben an ihre Kulturfähigkeit so tief zerstörten, und die Türkei das Recht, sich selbst zu regieren, für alle Zeiten verwirkt hat.
Herr Präsident, Sie werden mir die Unparteilichkeit meiner Stimme glauben, wenn ich als Deutscher zu Ihnen darüber rede, als der Angehörige eines Volkes, das auf das Tiefste mit der Türkei befreundet war, dem man infolge dieser Freundschaft in ungerechtester Weise die Mitschuld an diesen mörderischen Menschenjagden vorgeworfen hat. Das deutsche Volk hat nichts von diesem Verbrechen gewußt. Wenn seine Regierung, die zu allen Zeiten in heftigster Leidenschaft gegen das Unfaßbare dieser Vorgänge protestiert hat, eine Schuld trifft, so ist es die der Unkenntnis der türkischen Psyche und menschlicher Rücksicht gewesen, in Angst und Sorge um die Zukunft ihres eigenen Volkes zu leben. Ich verschweige es nicht, auch Schwäche ist eine Schuld im Leben der Völker. Aber der bittere Vorwurf, die unverzeihliche Möglichkeit dieser Austreibung hervorgerufen zu haben, trifft sie nicht allein. 

Im Berliner Vertrag vom Juli 1878 hat ganz Europa die heiligsten Garantien übernommen, die Ruhe und Sicherheit des armenischen Volkes zu schützen. Aber hat es jemals dieses Versprechen eingelöst? Selbst die Massenmorde Abdul Hamids haben es nicht zur Besinnung gebracht, und in blinder Begierde verfolgte es die Ziele seines Eigennutzes, nicht bereit, sich zum Beschützer eines unterdrückten Volkes zu machen. In den Waffenstillstandsbedingungen zwischen der Türkei und Ihren verbündeten Völkern, die von den Armeniern der ganzen Erde mit fieberhafter Spannung erwartet wurden, ist die armenische Frage nur kurz berührt worden. Soll sich dieses unwürdige Spiel ein zweites Mal wiederholen und die Armenier wieder die enttäuschenden Lehren aus der Vergangenheit ziehen? Die Zukunft dieses kleinen Volkes darf nicht zurücktreten hinter den selbstsüchtigen Plänen und Ansprüchen großen Staaten. Herr Präsident, retten Sie die Ehre Europas!

Der Rat der russischen Volkskommissare hat den Armeniern das Recht der freien Selbstbestimmung zuerkannt, ihre Nationaldelegierten in Paris haben die Unabhängigkeit Armeniens proklamiert. Aber bei der Anerkennung dieses Rechtes dürfen es die Völker nicht bewenden lassen; denn die armenischen Gebiete der Türkei sind ein menschenverödetes Land, in das zwei Drittel seiner Bewohner niemals zurückkehren werden. Es würde einen nie wieder gutzumachenden Fehler bedeuten, wenn die armenischen Gebiete Russlands nicht für immer von diesem Reiche gelöst würden, um mit den armenischen Provinzen Anatoliens und Ziliziens zu einem gemeinsamen Lande vereint zu werden, das von jeder türkischen Herrschaft befreit, seinen Ausgang zum Meere hat. Nur so wäre die Möglichkeit eines Ausgleiches gegeben, nicht nur die zahlreichen Flüchtlinge jenseits der russischen Grenze zurückzuführen auf ihre Scholle, sondern auch die verödeten Städte und Dörfer neu zu beleben. 

Es genügt nicht, Herr Präsident, daß Sie das Elend dieses Volkes kennen. Es genügt nicht, daß Sie ihm einen Staat geben, dessen Häuser zerstört, dessen Felder verwüstet, dessen Bürger ermordet sind. Die Erschöpfung dieses Landes ist so groß daß es sich aus eigener Kraft nicht wieder emporraffen kann. Der Handel ist niedergebrochen, das Handwerk, die Industrie ohne Arbeit. Das Kapital, das an Menschen vernichtet wurde, kann niemals ersetzt werden. Die unermeßlichen Reichtümer, die die grausamen Machthaber dieses Landes in ihrer unersättlichen Gier aus den Schätzen der Vertriebenen angehäuft haben, sind nur ein geringes Pfand. Viele Tausende von Armeniern wurden mit Gewalt zum Islam bekehrt. Tausende von Kindern sind verschollen und Tausende von Frauen geraubt und in türkischen Harems zu Sklavinnen gemacht worden. Ihnen allen muß die unverbrüchliche Versicherung ihrer Rückkehr in die Freiheit gegeben werden. Alle Opfer der Verfolgung, die ihre Heimat betreten, die zwei Jahre und mehr in der Wüste gelebt haben, müssen an Reichtümern und Gütern, die sie verloren, entschädigt, alle Waisen erzogen werden. Wessen dieses Volk bedarf, das ist die Liebe, die es so lange entbehrt hat. Das ist die Erkenntnis der Schuld unserer aller.

Herr Präsident, für mein eigenes Volk zu bitten, verbietet mir der Stolz. Ich bezweifele nicht, daß es aus der Fülle seines Schmerzes die Kraft gewinnen wird, sich opfernd mitzuwirken an der künftigen Erlösung der Welt. Für die armenischen Nation aber, die so furchtbar gedemütigt wurde, wage ich einzutreten, denn wenn sie auch nach diesem Kriege nicht die Genugtuung ihrer furchtbaren Leiden erfahren sollte, wird sie für immer verloren sein. 
Mit der Inbrunst dessen, der die unausdenkbare Schmach seiner Leiden an der eigenen gefolterten Seele erfuhr, erhebe ich die Stimme jener Elenden, deren verzweifelte Klagen ich hilflos hören, deren grauenvollen Tod ich beweinen mußte, deren Knochen die Wüsten des Euphrats bedecken und deren Beine noch einmal Fleisch werden in meinem Herzen und mich mahnen, zu ihnen zu reden. 
Schon einmal habe ich an die Tür der amerikanischen Volkes geklopft, als ich die Bittbriefe der Vertriebenen aus den Flüchtlingslagern von Meskene und Aleppo auf Ihre Botschaft nach Konstantinopel brachte, und ich weiß, daß dies nicht vergeblich gewesen ist. Ich schmeichle mir nicht, jemals eine Antwort auf diesen Brief zu erhalten; aber wenn Sie, Herr Präsident, die erhabene Idee, den unterworfenen Völkern Hilfe zu bringen, in der Tat zur Richtschnur Ihrer Politik gemacht haben, so werden Sie nicht verkennen, daß auch aus diesen Worten eine machtvolle Stimme spricht, die einzige, die das Recht hat, zu allen Zeiten gehört zu werden, die Stimme der Menschlichkeit."

Berliner Tageblatt 23. Februar 1919
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- Wer schweigt, wird schuldig! Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Hg. und
kommentiert von Rolf-Bernhard Essig und Reinhard M. G. Nickisch. © Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
- Bildnis einer Stimme / Picture of a Voice / Görünen Ses ... (Doppel-Audio-CD). Ein Armin T. Wegner-Hörbuch mit internationalen Vertonungen. Hg. von Ulrich Klan im Auftrag der Armin T. Wegner-Gesellschaft. © Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
- Armin T. Wegner.  Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag. Hg. von Andreas Meier. Mit einem Nachwort von Wolfgang Gust. 2009 Wallstein Verlag, Göttingen.

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