Kontrapunkt: Casus „Netrebko“

Eine ganz persönliche Meinung

von Peter Bilsing

Peter Bilsing - Foto:privat
Kontrapunkt: Casus „Netrebko“
 
Eine ganz persönliche Meinung
 
Die Sängerin Anna Netrebko ist in der Staatsoper Unter den Linden aufgetreten, obwohl im Vorfeld viele Menschen gegen diesen Auftritt protestierten, weil sie der Ansicht sind, Netrebko habe sich nicht ausreichend vom Angriffskrieg gegen die Ukraine distanziert. Nun wäre es für die Operngänger ja ein Leichtes gewesen, die Vorstellung zu boykottieren, um der Sängerin eindeutig klarzumachen, daß sie derzeit in Deutschland nicht erwünscht ist. Aber die Aufführung war ausverkauft. Man ist erstaunt.
 
So langsam wird der Fall (der tiefe Fall!) dieser österreichischen (!!) Sängerin, die kein einziges Wort Deutsch spricht, schon skurril, und es wirkt auf mich, den erklärten Nicht-Fan von wem auch immer (Fan kommt immer noch von Fanatismus, oder nicht?) geradezu pervers.
Ihre „Entschuldigung“ und scheinbare Distanzierung zu Wladimir Putin kam reichlich spät und als Plattitüde. Da hatten viele andere große russische Künstler sich schon erheblich präziser und klarer ausgesprochen. Klang für mich, als sagte man über Hitler „na ja, er mochte ja kleine Kinder, Schäferhunde, Nudelsuppe und hat immerhin unsere deutschen Autobahnen gebaut“. Was wäre, wenn sich ein geflüchteter oder nichtgeflüchteter deutscher Künstler 1944 in den USA auf diese Art von Hitler „distanziert“ hätte? Wären da auch Tausende in dessen Konzerte gegangen?
 
Ich habe mich lange zurückgehalten, aber im Moment muß man sich fragen: „Wie krank ist das denn?“. Wie krank ist die Klassik-Szene? Wie krank ist die Welt? Da wehen auf der Berliner Staatsoper ukrainische Flaggen. Zwischen den Säulen der Oper prangen die ukrainischen Farben und der Deckenbereich des Zuschauerraumes ist blaugelb illuminiert. Und auf der Bühne singt Anna Netrebko! Und sinkt moralisch immer tiefer …
 
Aber entschuldigen Sie mal bitte: Wie kann man denn bloß öffentliche Distanzerklärungen von Putins fortschreitenden Völkermord an der ukrainischen Nation von so einer großen Sängerin erwarten? Was hat sie denn gemacht? Hat sie vielleicht jemanden umgebracht? „Ist sie mit angeschlagener MP in Kiew einmarschiert?“ – Sie will doch nur völlig selbstlos und wertfrei singen und ein bißchen Kohle machen. Ihr verdammten Netrebko-Hasser, ihr Agitatoren, ihr neidischen Demonstranten und Hetzer, laßt sie endlich in Ruhe! Buh! Ist Euch Banausen denn nichts heilig?
 
Und damit wieder bitterernst: Treten Sie bitte umgehend zurück, Herr Generalintendant Matthias Schulz! Der große, stets politisch engagierte Harry Kupfer würde sich im Grabe umdrehen, angesichts dieser Wiederaufnahmen seiner gefeierten über zehn Jahre alten Inszenierung! Was hier gerade passiert, ist letztlich die Schändung eines großen Werkes und einer blendenden Regiearbeit, wie es sie heute kaum noch gibt.
 
Schließlich: Ich bin ein alter 68-er und habe früher schon als 17-jähriger aufs Heftigste und immer lautstark demonstriert, z.B. gegen den Vietnam-Krieg. Ich habe immer (!) zu allem und jedem eine klare Stellung bezogen. So auch jetzt.
 
PS: Zu Currentzis folgt ein zweiter Kontrapunkt, seien Sie sicher.
 
Mit besten Grüßen, wenn auch ein wenig erschüttert
Ihr Peter Bilsing

Wir haben diesen „Kontrapunkt“ mit der freundlichen Erlaubnis
des Autors dem Opernmagazin „Der Opernfreund“ entnommen.