Stadt der Untoten

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ in der Rheinoper

von Peter Bilsing

Die tote Stadt - Corby Welch (Paul), Emmett O’Hanlon (Frank) - Foto © Sandra Then

„Stadt der Untoten“
 
Düsseldorf: „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold
 
Liebe Leser,

man könnte die Produktion auch „Stadt der Untoten“ betiteln, oder „Ein Schaufensterpuppen-Bastler namens Paul“, am Ende bietet sich auch „Der Puppen-Killer“ an.
Ich sitze hier vor der unheilvollen Aufgabe, Ihnen einen Totalverriß noch nett zu verkaufen und der Rheinoper, meinem Heimathaus, welches ich seit über 50 Jahren liebe und dem eigentlich meine ganze Solidarität gilt, wenig zu schaden, denn die Folgevorstellungen dieser wirklich tollen Oper – sie gehört zu den schönsten, die es gibt – sind leider nur mäßig verkauft. Bitte fahren Sie hin (möglichst nicht mit dem Auto, es gibt kaum Parkplätze), unabhängig von dem, was ich jetzt hier schreibe, und bilden Sie sich eine eigene Meinung! „Augen zu und durch“ klappt notfalls immer. Wo spielt man denn das Werk sonst? Und das ist eine wirkliche Schande.
 
Als Korngold-Freund und -Fan (wahrscheinlich besitze ich so ziemlich alles, was zu diesem Komponisten auf Ton- und Bildträger gefertigt wurde und habe es auf meinem Altar stehen,  habe ich seit der legendären Berliner Wiederentdeckung des Komponisten durch Götz Friedrich 1983 in Berlin mit seiner Meilenstein-Inszenierung (dankenswerterweise bei Youtube weiterhin gratis abrufbar, mit sehr schöner Einführung: unbedingt anschauen!) über zehn Produktionen gesehen, wobei die Düsseldorfer Inszenierung vom jungen Günther Krämer (Beginn der großen Horres-Intendanten-Ära) nicht nur mir immer noch als eine der besten, lebendigsten, spannendsten und fantasievollsten in Erinnerung ist. Leider gibt es davon keinerlei Aufzeichnung, was sehr, sehr traurig ist.
Darüber hinaus ist die Rheinoper hoch zu loben, dieses grandiose Meisterwerk nach einem guten Vierteljahrhundert endlich wieder anzusetzen. Diese traumhaft schöne Oper gehört einfach in jedes Repertoire. Dabei ist es schon fast egal, wie gut oder schlecht es gemacht ist, denn hinterher verlassen alle das Opernhaus und summen „Glück, das mir verblieb“ oder den zweiten Gassenhauer „Mein Sehnen, mein Wähnen“ – wenn er gut gesungen wurde, bleibt auch dieser ewig in Erinnerung. Gestern eher nicht…
 
Auch „verblieb“ beim Rezensenten wenig „Glück“ über diese eher unglückliche Produktion, obwohl Corby Welch in der mörderischen Hauptpartie wacker durchhielt (Nota bene: es gibt gerade mal eine handvoll Sänger auf der Erde Rücken, die diese Partie überhaupt singen können!), denn sie gilt als die vielleicht schwierigste und anstrengendste Tenorrolle überhaupt – dagegen sei Wagners Siegfried ein Kindergarten, sagte mir mal ein bekannter Tenor. Kraft, Ausdauer, Textverständlichkeit und lyrische (!) Emphase – die sprichwörtliche Pfötchen gebende Wollmilchsau wird eigentlich erwartet. Ein Wundersänger wird gesucht. Warum der gute Corby Welch, der ja nun nicht gerade eine „Bachelor“-Figur hat, minutenlang in schäbigen grauen Unterhosen rumlaufen muß, weiß nur der Regisseur. Das ist einfach billig  und stillos. Buhh!
Auch die Ansprüche an die restlichen Rollen sind sehr komplex und nur schwer befriedigend zu besetzen. Damit haben auch pars pro toto München, die Scala oder die Wiener ihre Probleme, also werde ich nicht meckern. Immerhin respektvolle Anerkennung für die Hausmitglieder und Nadja Steffanoff (Marietta) – eine wirklich vorzügliche Gastsängerin; sie brilliert überall in tollen Rollen, aber diese Partie ist, so ist mein ganz persönliches Empfinden, bitte um Vergebung bei allen ihren Fans, leider zu groß für ihr Stimmvolumen in einem solch großen (auch noch akustisch miserablen) Haus.
 

Die tote Stadt - Corby Welch (Paul) in Unterhosen -  Foto © Sandra Then

Etwas gutes hat allerdings die stellenweise wirklich gähnend langweilige und uninspirierte Regie von Daniel Kramer doch, und das ist die Figur der „Vampira“. Wer Ed Woods Filme kennt, ist erfreut. Sie taucht unerwartet plötzlich hinter dem Duschvorhang (Hitchcock!) auf und hält später ein bedrohliches Messer in Händen wie Madama Butterfly. Für mich die beste Rolle des Abends, vielleicht auch, weil sie überwiegend stumm agiert und ich Vampire liebe.
Zurück zum Anfang: Wenn Sie im ersten Bild (siehe oben) Franks Wohnung mit großer Plastikfolie, wie man sie vom Bau kennt, verhangen sehen, denn sehen Sie recht: Es ist schäbige Plastikfolie vom Bau! Raffinierte Reminiszenz der Regie an unsere Landeshauptstadt, wo, wie in Berlin seit 30 Jahren, überall gebaut wird. Respekt! Und wäre da nicht der zweite Akt, der tatsächlich plötzlich die morbid düstere Atmosphäre von Rodenbachs Roman widerspiegelt, gäbe es von mir die Note ungenügend.
Doch die Freude über das düstere – auch anfangs trefflich ausgeleuchtete Bühnenbild – dauert nur 10 Minuten, dann gehen im düsteren Park von irgendwo Autoscheinwerfer an und die finstere Stimmung ist dahin. Die Gaukler kommen. Nicht so fröhlich wie damals bei Krämer auf Fahrrädern, sondern eher schwerfällig, denn sie müssen einen riesigen weißen Sarg schleppen. Nein, ich werde nicht weiter spoilern.
Doch auch der Sarg und das irgendwie dilettantisch uninspiriert wirkende Herumgemache auf und in ihm können nur schwerlich den Theaterschlaf verhindern. Ich schiebe mir ein paar Cola-Bonbons rein. Bei so etwas hilft auch prickelndes Brausepulver, aber meine Kinder sind jetzt groß und haben sowas nicht mehr dabei. Der Sekundenschlaf in diesem wahrscheinlich langweiligsten inszenierten zweiten Akt aller Zeiten erfaßt nicht nur mich. Hinter mir höre ich dezente Schnarchgeräusche. Eigentlich kommt irgendwann der zweite große „Hit“ (s.o.) vom „Sehnen und Wähnen“, dessen Erwartung uns noch wach hält. Aber wie immer, wenn man sich auf etwas besonders freut – na ja. Wie hat uns damals der begnadete Eugen Holmes damit in den Bann geschlagen…
 

Die tote Stadt mit Sarg - Vorne Corby Welch (Paul), im Hintergrund Nadja Stefanoff (Marietta) - Foto © Sandra Then

Lesen Sie nicht vorher die Inhaltsangabe vom Opernführer, denn Paul erwürgt heuer nicht Marietta im dritten Akt, er prügelt die Motten aus den gefühlt 50 kaputten Schaufensterpuppen, die nach dem Zurückfahren der häßlichen Wohnstube des ersten Aktes in die Hinterbühne sichtbar werden. Aha, kognostiziert der Netflix-Serienmörder-Filme-Kenner: Blutbad, deshalb war Pauls Hemd am Anfang blutverschmiert! Er hat die Schaufensterpuppen alle gemeuchelt – wen auch immer die symbolisieren sollen. Fragen Sie bitte Ihren Psychoanalytiker!
Die ganze Geschichte endet auf einem Friedhof, wo Paul pflichtschuldig seinen Tophit vom „Glück“ ziemlich uninspiriert absingt und dann ins Dunkel abtaucht. Es bleibt der weiße Sarg, über den sich langsam der Vorhang senkt. Was für ein großes, beeindruckendes und vielseitig auslegbares Schlußbild hätte es gegeben, wäre der Sarg eben nicht hinter (!) dem Vorhang verschwunden, sondern als Memento sichtbar vor ihm geblieben. Freunde, das müßt Ihr doch noch korrigieren können beim work in progress der Folgevorstellungen! Das wäre noch ein großartiges Schlußbild geworden.
Nein, ich habe die „Düsis“ (Düsseldorfer Symphoniker) nicht vergessen – ich möchte nur keine Beleidigungsklage bekommen. Aber ich ende mit etwas ganz positivem: Der Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor klang fantastisch. Zwar nicht live, aber eine tadellose Tonkonserve in High-End-Quality.
 

Die tote Stadt, alle gemeuchelt - Vorne Corby Welch (Paul), im Hintergrund Mara Guseynova (Marie) - Foto © Sandra Then

Peter Bilsing, 17. April 2023

P.S.:
Bitte achten Sie auch auf diee zweite OPERNFREUND-Kritik vom Kollegen Rueth Anfang Mai. Er wird dann ausführlich über das Augmented-Reality-Brillen-Experiment berichten, welches die Rheinoper mit diesem Werk initiiert hat. Ein Sprung in die technische Zukunft. Wenn Sie schon ein modernes Elektroauto mit Head-Up-Display haben, dann wissen Sie, wie die Technologie grob funktioniert. Leider geht das noch nicht bei Brillenträgern, es sei denn, man hat Kontaktlinsen.
 
Die Kritik erschienen am 17. April 2023 in "Der Opernfreund"
Übernahme desTextes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
 Redaktion: Frank Becker